Serie zum Hanauerland (5): Originelles und Originale
In einer elfteiligen Serie im Vorfeld des Hanauerland-Marktes am 30. September und 1. Oktober stellt die Kehler Zeitung das Hanauerland in all seinen Facetten vor
Gibt es ihn heute noch, den alten Hanauer mit dem Dickschäddl, der, wie »de Baase-Fritz« aus Linx gereimt hatte, »noch trutzt und bruddlt und huddlt«? Und »het er ebs in sinnem Schäddl, do git's nix, was ne schreckt…« – das wären doch beste Voraussetzungen für originelles hiesiges Sein. »Ein Original«, so definiert es Wikipedia, »ist eine Person, die durch unverwechselbares, zum Teil auch exzentrisches Auftreten, Verhalten oder andere Eigenschaften bekannt geworden ist. Dabei spielen die Faktoren, die ein Abweichen von der Allgemeinheit, ein Überraschungsmoment, etwas Seltsames und Wunderliches manifestieren, eine Rolle«. Und ist nicht gerade unser Fleckchen Erde, wo Eichen zu Königen, pensionierte, der heimischen Scholle verbundene Lehrer zu Dorfchronik-Autoren oder Gärtner zu Sängern wurden, nicht bestens geeignet als Nährboden für das Tanzen aus der Reihe? Bietet das Leben hier nicht genügend Platz für Ausgefallenes und Wunderliches gestern und heute?
»Originell sin heißt andersch sin wie anderi« sagt Rolf Mattern, »einer, der grad so bliibt, wie er isch, der sich net anpasst, der geje de Strom schwimmt und somit au an die Quelle kommt«.
Und da gehört er auch hin, denn er ist der Rheinauer Wassermeister. »Des isch originell«, grinst er. In der Tat ist er ein Original, für mich sogar so etwas wie der reinkarnierte »Alde Hanauer«: 56 ist er, wohnt der Liebe wegen »bi de Beseknewwler«, also in Zierolshofen. »Leider«, hadert er, ihn zieht es wieder ins geliebte Fischereck uff Diersche.
Dass er das Alte, das Vergangene schätzt, sieht man auch an seinem Fuhrpark: »Ein betagter R4, historische Motorräder, e paar Bulldogs, und natürlich »e Quickly«. Ihn begeistert, dass das alde Zeug »noch so lang hebbt, au wenn ma ab und zu dran rumschruwe muss«. Und wenn irgendwo wie kürzlich in Eckartsweier ein Fest ist, holt er die alten »Schlörer-Knickerbocker«, die er sellemols 1991 sich zu »Diersche forever« hatte anfertigen lassen, aus dem Schrank und zeigt sich so stilgerecht und bewusst antiquiert auf dem jeweiligen Festtagsgelände.
Klar, dass einer wie er dann auffällt. »Des ich originell«, grinst er sich eins in seinen Rauschebart. Einer wie er, der braucht kein Handy, (außer beruflich, falls mal ein Wasserrohr bricht oder ne Leitung eingefroren ist). Er hat noch nie Geld am Bankomat abgehoben, noch niemals eine E-Mail geschrieben. Will aber nicht heißen, dass er sich gegen Fortschritt, gegen moderne Zeiten wehrt, aber er schätzt nun mal das Dagewesene. Und er ist glücklich dabei.
Vor sieben Jahren hatte das SWR-Fernsehen Freiwillige gesucht, die in einem alten Forsthaus am Schluchsee leben sollten, um den Wald von seiner nicht wirtschaftlichen Seite zu zeigen. Das war genau das Richtige für einen wie ihn, der lieber rückwärts leben würde als sich in die Zukunft zu katapultieren. »Sellemols war's einfach schöner und ehrlicher«. Und genau so lebt er auch: einfach, ehrlich, erdverbunden.
Heimatverbunden
Reicht das denn schon aus, um ein Hanauer Original zu sein? »Hajo«, sagt er, »weil es vom allgemeinen Dasein abweicht, vom Hecheln nach Fortschritt, vom immer höher, schneller, weiter. »Des«, so Mattern, »macht net glücklich.«
Einer wie er singt natürlich im Männerchor (in Diersche), er ist im passives Mitglied im Musikverein und bei der Feuerwehr. Und natürlich aktiv im Dierschemer Schlauchclub dabei, ein Verein mit ausschließlich männlichen Mitgliedern von denen aber keiner weiß, warum der Verein existiert.
Originell, gell? Und dennoch ist der Mattern-Rolf kein Vereinsmeier, eher eben ein Original, mit beiden Beinen im Leben stehend und vor allem aber mit sehr tief gehenden heimatlichen Wurzeln.
Ist unsere heimische Scholle nicht auch perfekter Nährboden für ein originelles Stück Hanauer Kultur? Kultur (von »colere«» also pflegen, verehren, den Acker bestellen«) »ist im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt«. Zu solchen Menschen gehört bestimmt auch der 1601 in Willstätt geborene Johann Michael Moscherosch – genau so wie der, der ihn vor 16 Jahren beim großen Fest 2001 in Willstätt gespielt hatte: der singende Gärtnermeister Werner Hetzel.
Auf eine ganz andere Art originell war aber auch der früher sehr gefürchtete »Sassoklub« in Bodersweier, dessen Mitglieder einst an Rosenmontagen sich maskiert und mit Stroh ausgepolstert sich Fasnacht feiernd in vereisten Pfützen wälzten. Die zählen für mich genau so zu Originellem und einem Stück Hanauer Kultur wie der zu früh verstorbene Maler (und »Hufschmied«)Heinz Berger, der mit Wasser, Farben und Pinsel heimelige Hanauer Ecken der Nachwelt erhalten hatte.
Und wie wäre es mit Klaus Maria Brandauer, der in unseren Breiten mit der Inszenierung des Borchert-Dramas »Draußen vor der Tür« (s)eine Weltkarriere startete?
Kultur ist Wandel und gleichzeitig Spiegelbild des hier sowohl in Kehl als auch im Hanauerland lebenden Menschenschlags, und somit kann eine solche Momentaufnahme wie diese in keinster Weise einen Anspruch auf Vollständigkeit stellen.
Zu heimischen Originalen kann man beruhigt auch »de Becke-Willi« aus Eckartsweier oder den mehr als textsicheren Neumühler Ortsvorsteher Vogte-Fritz mit seinem bestimmt 1765 Liedern umfassenden Repertoire zählen, die allesamt mit ziehender Harmonika und »gfitze Sprüch« verdientermaßen im Hanauer Rampenlicht standen und stehen.
Freude machen
Originale gibt es hier genug. Sie sind Freuden- und Licht-ins-Lebensdunkelbringer wie zum Beispiel die Kopfe-Else, die in brääädeschdem Dialekt erklärt, wie man die Bolle zur Bollesupp rollt und im Advent siebenunddreißig verschiedene Sorten »Winnachtsbreedle« backt. Nicht minder originell auch de Weige-Mannes, der mit freundlichen Menschen ein Lachen ins Gesicht seiner Mitmenschen zaubern und somit Fröhlichkeit in den immer grauer und komplizierter werdenden Alltag tragen möchte.
Und unsere Hanauer Landfrauen? Sie sind und machen genau so in heimischer Kultur wie ihre Pendants, die Willstätter Landmänner, deren schollennahes Tun man getrost ebenfalls als »originell« bezeichnen kann. Zu originellem Tun kann man auch die zählen, die in alten Kirchenbüchern nach Ahnen anderer suchen, Flohmarkt orientierte Dachbodenentrümpler oder Kelsch nähende Mitglieder des örtlichen Heimatvereins und kreative Theaterspieler in Zierols- oder Odelshofen. Im Hubbes sini Kumbel, Martin Schütt, Zäpf, de »Bibs« aus Zierolshofen kümmern sich um musikalisch-Dialektisches und erhalten uns damit ein Stück weit die Sprache unserer Ahnen.
Oder die Driese-Gretel, die Gedichte schrieb und mit Yvonne Schott oft auf den heimischen Bühnen gestanden hatte, oder das Buch »Onseri Heemetschbrooch« vom Korker Hans Hermann– auch das ist hiesige Kultur.
Im Hanauer Dickschäddel ist also tatsächlich genügend Platz für eine gewachsene und immer wieder neu entdeckte Kultur, die unseren Landstrich präsentiert und sowohl eine Verbeugung vor der Tradition, aber auch ein Salut an die Moderne zu sein scheint.
Es scheint eine gewachsene, sich immer wieder verändernde und doch äußerst heimelige Kultur, wo noch viele hier nicht genannte Individualisten wie der Korker Helmut Schneider versuchen, dem Nagen des Zahns der Zeit Einhalt zu gebieten und Vergangenes für die Zukunft zu bewahren.