Wenn aus Opfern Täter werden

Mit kleinen, aber eindrücklichen Szenen stellen die Theaterpädagogen von „Mensch Theater“ Gewalt-Situationen dar. Hier wird der Klassenstreber im Bus von Tom (Tobias Gerstner) gehänselt. Seine Freundin ist hin- und hergerissen, zu wem sie stehen soll. ©Nina Saam
Gemurmel, Gelächter, mehr oder minder coole Sprüche sind im Auditorium in der Aula der Tulla-Realschule zu hören. „Das wird so scheiße, das weiß ich jetzt schon“, raunt einer in der zweiten Reihe.
Auch die Macher von „Mensch! Theater“ sind sich bewusst, dass sie die Schüler – die Stufe 9 des Einstein-Gymnasiums –erst einmal einfangen müssen, um sie um 8.45 Uhr mit einem interaktiven Theaterstück und anschließenden Workshops für das Thema „Häusliche Gewalt“ zu sensibilisieren.
Es gelingt ihnen bemerkenswert gut. Was häusliche Gewalt ist und wo sie anfängt, wollen die drei Schauspieler von den Schülern zunächst wissen. Schläge, Beleidigungen, Verletzung der Privatsphäre, verbale Gewalt, Zwang, kommt aus dem Publikum – und dass das „meist in ausländischen Familien“ vorkommt. „Dieses Vorurteil hören wir oft“, sagt Theaterpädagoge Tobias Gerstner, der künstlerische Leiter des Präventionstheaters aus Kappelrodeck.
In kleinen Episoden zeigen die drei Akteure Szenen rund um einen Schüler namens Tom: Im Bus fragt ein Mädchen einen Mitschüler, ob sie von ihm die Mathehausaufgabe abschreiben kann. Dann kommt Tom, der Freund des Mädchens, hinzu und fragt sie, was sie denn von dem „Streber“ wolle, und beginnt, diesen zu hänseln und fordert seine Freundin auf, mitzumachen, was sie nach einigem Zögern schließlich tut.
„Enttäusche mich nicht!“
In der zweiten Szene ist zu sehen, dass es zuhause Tom ist, der unter Druck steht: „Ich will nicht, dass du mich wieder enttäuschst“, sagt seine Mutter, als sie ihm aufträgt, sich um den Hund zu kümmern und seine Aufgaben ordentlich zu machen.
In der dritten Szene schließlich ist der Hund weggelaufen, weil Tom ihn in den Garten gelassen hatte und nicht wusste, dass der Zaun kaputt ist – und der Vater kommt nach Hause und rastet aus, weil der geliebte Vierbeiner weg ist.
Nach jeder Episode fragen die Schauspieler die Schüler, was sie wahrgenommen haben – und spielen zum Teil die Szenen mit Freiwilligen aus dem Publikum nach, die dabei verhindern sollen, dass die Situation eskaliert.
Schnell wird deutlich, dass es nicht leicht ist, Courage zu zeigen und sich dem Täter entgegenzustellen. „Es ist schwer, den Angegriffenen zu beschützen und gleichzeitig nicht den besten Freund zu enttäuschen“, sagt ein Schüler, der die Rolle des Mädchens im Bus übernommen hatte.
Druck wird weitergegeben
Ähnlich in der Familienszene: „Wir haben hier eine gruselige Machtstruktur gesehen, die statistisch gesehen häufig von den Männern ausgeht“, so Tobias Gerstner. Die Mutter überträgt aus Angst den Druck, der vom Vater ausgeht, auf Tom – und dessen Frust sucht sich ein Ventil, indem er in der Schule Schwächere ausgrenzt und terrorisiert.
„Als Jugendlicher sollte man wissen, dass man sich das nicht gefallen lassen muss“, sagt der Theaterpädagoge. „Häusliche Gewalt ist eine Straftat. Dazu zählen auch seelische Gewalt in Form von ,Druck machen‘ und verbale Gewalt.“ Betroffene sollten sich nicht scheuen, sich an Jugendsozialarbeiter, Beratungsstellen oder die Polizei zu wenden.
Stimmung ändert sich
Inzwischen ist die Atmosphäre im Zuschauerraum deutlich ruhiger und ernsthafter geworden. „Es ist immer spannend, von der Bühne aus in die Gesichter der Schüler zu blicken und zu sehen, wie sich die Stimmung verändert“, sagt Tobias Gerstner.
In der letzten Szene fragt Toms Freundin, warum er denn nicht zu ihrer Verabredung gekommen sei. Tom reagiert unerwartet aggressiv und schubst sie, sodass sie hinfällt. „In der Schule haben sie gesagt, sowas soll man melden“, sagt sie zu sich selbst. „Aber das war sicher eine einmalige Geschichte, er ist ja sonst nicht so.“
Dieses „einmal ist keinmal“ war die Aussage, mit der die Schüler anschließend in die Workshops gingen. Hier werde herausgearbeitet, dass jegliche Art von Gewalt nicht hingenommen werden dürfe und dass es wichtig sei, Hilfe zu holen und Außenstehende zu sensibilisieren, erläutert Tobias Gerstner.
Mit dem Stück zu häuslicher Gewalt war das Präventionstheater im Rahmen des Aktionsmonats gegen Gewalt gegen Frauen in dieser Woche in drei Kehler Schulen zu Gast, neben dem Einstein-Gymnasium auch noch in der Hebelschule und der Albert-Schweitzer-Schule.
Theater zeigt Erfolg
Das „Mensch! Theater“ aus Kappelrodeck war nicht zum ersten Mal in Kehl. Zuletzt hatten die Theaterpädagogen in der Tulla-Realschule ein Stück zum Thema Zwangsheirat aufgeführt. In der Folge hätten sich zwei Schülerinnen an eine psychologische Beratungsstelle gewandt, berichtet Barbara Tonnelier von der Bürgerstiftung Kehl, die den Aktionsmonat mitorganisiert hat.