Wenn die Straße zur Bühne wird...
Seit der aufführungslosen Corona-Zeit bietet das Theater Baden Alsace einen „Kultur-Bringservice“. Am Donnerstag gab es eine Dekameron-Lesung und Ringelnatz-Gedichte in Willstätt.
„Nicht umsonst gibt’s Quarantäne. Allen graust es, wenn ich gähne…“ deklamiert Guido Schumacher vor dem Haus der Familie Ruhlich in Willstätt – als ob Joachim Ringelnatz von Corona gewusst hätte. Während der Geschäftsführer und Schauspieler des Theaters Baden Alsace mit Gedichten von Joachim Ringelnatz das Programm für die jüngeren Zuhörer bestreitet, hat Schauspielerkollege Benjamin Wendel eine Geschichte des Dekamerons von Boccaccio im Gepäck, ein Schelmenstück, in dem drei Freunde ihrem knauserigen Kameraden, der frisch geerbt hat, ein Festmahl abluchsen.
Das Dekameron ist ein beliebtes Stück Weltliteratur in Corona-Zeiten: Zehn junge Menschen fliehen im 14. Jahrhundert vor der Pest in Florenz in ein abgelegenes Landhaus und vertreiben sich die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten. Auch andere Theater haben den Corona-Lockdown zum Anlass genommen, sich mit Boccaccias Werk zu beschäftigen und beispielsweise Lesungen der einzelnen Novellen ins Internet gestellt.
Das Theater Eurodistrict Baden Alsace, das vor dem Umzug in das neue Forum am Rhein noch unter Baal novo firmierte, wurde am 11. März jäh mit Corona konfrontiert: Sie sollten in Germersheim spielen, doch der Landrat sagte die Vorstellung kurzfristig ab. Seitdem gab es keine Aufführungen mehr – aber eine neue Idee: Ein Kultur-Bringservice. „Wenn die Leute nicht zu uns kommen dürfen, dann kommen wir eben zu ihnen“, sagt Schumacher. „Andere liefern Pizza – wir liefern Kultur.“
Spielen, wo Platz ist
Zur Auswahl stehen Lesungen aus dem Dekameron, Ringelnatz-Gedichte und Max und Moritz von Wilhelm Busch, jeweils etwa fünf Minuten lang. Rund 40 Mal wurden die Schauspieler seitdem geordert, spielten in Gärten, unter Balkonen und Fenstern oder auf der Straße; für Familien, Freunde und Nachbarn, auf Geburtstagen oder einfach so.
Wie bei Gabi und Gerd Ruhlich. Sie sind treue Fans des Theater Baden Alsace, kaum ein Stück, das sie nicht gesehen haben. Doch es waren nicht nur Kultur-Entzugserscheinungen, die sie dazu bewegt haben, zwei Mitglieder des Ensembles zu sich in die ruhige Wohnstraße nach Willstätt zu holen und die Nachbarn zu der Darbietung einzuladen. Sie wollen damit auch die Schauspieler unterstützen. Zwar ist der „Kultur-Bringservice“ an sich kostenlos, am Ende jedoch geht der Hut rum. Auch wenn die Unterstützung des Landes schnell und unbürokratisch gewährt wurde, hat Corona tiefe Kerben geschlagen:
„Uns fehlen etwa 60 000 Euro an Einnahmen“, so Guido Schumacher. Sechs Schauspieler der 17-köpfigen Truppe mussten Kurzarbeit anmelden.
Mit den vom Land erlassenen Lockerungen darf seit dem 1. Juli nun auch wieder Theater gespielt werden, allerdings unter erschwerten Bedingungen, mit Abstand und Zuschauerbegrenzung. Der 1,50 Meter-Abstand gilt übrigens auch auf der Bühne – weshalb es ein Glück ist, dass mit „Der Boss“ ein Ein-Mann-Stück auf dem Programm steht. Gespielt wird vorerst nur unter freiem Himmel: „Von den 150 Plätzen im Forum am Rhein könnten wir nur 37 belegen“, so Guido Schumacher. „Das lohnt sich nicht.“
Intime Atmosphäre
Auch wenn die Spielzeit jetzt wieder losgeht, kann der „Kultur-Bringservice“ weiterhin gebucht werden: Montags bis freitags von 8.30 und 11.30 Uhr unter • 07 81 / 97 06 97 10. Die Schauspieler schätzen dabei den direkten Kontakt zu ihrem oft kleinen Publikum und die Gespräche danach: „Wenn wir jetzt Open Air vor maximal 99 Leuten spielen, sitzen manche wegen der Abstände so weit weg, dass man die Reaktion gar nicht sehen kann“, so Guido Schumacher.