Kinzigtal
Als der Himmel aus blauem Stoff war
Katharina Wagner
18. Juli 2005
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Den mittelalterlich gekleideten Herold Carolan konnte man am Freitagabend auf dem Balkon des Gengenbacher Rathauses sehen. Er lud ein zu einem walisischen Märchen und in die Zeit, als der Himmel noch ein Zelt aus blauem Stoff war. Die Akteure der »Zelt-Mystik« im »Kultursommer« ließen das 21. Jahrhundert für ein paar Stunden vergessen.
Gengenbach. Wo Mythen, Legenden, Sagen – dem Mittelalter eben – Leben eingehaucht wird, kann es kaum ein besseres Ambiente als das malerische, mittelalterlich anmutende Gengenbacher Altstadtbild geben. So begann am Freitagabend die »Zelt-Mystik«, eine Zeitreise mit Peteronius Paternoster (Andreas List aus Köln) und seiner walisischen Geschichte aus dem sechsten Jahrhundert, im idyllischen Innenhof des Rathauses.
Beeindruckend die anfangs und inmitten der Geschichte eingefügten, für uns so fremd klingenden Worte aus vergangenen Zeiten der walisischen Kelten. Kymrisch. Ja, das war die Sprache, in der auch die Geschichte von »Taliesim« erzählt wurde, wohl irgendwo in einem Zelt an einem kalten Abend vor rund 1500 Jahren zum ersten Mal, bis sie im 15. Jahrhundert niedergeschrieben wurde.
Damals waren die Wände zwischen der wirklichen Welt und der Sagenwelt dünn. So konnte es schon mal passieren, dass man sich in der anderen Welt wiederfand. So ging es auch dem Protagonisten der Geschichte, »Klein Gwion«, der später den Namen Taliesim bekommen sollte. Auch für die Gäste sollte die Kulisse des Innenhofes immer mehr verblassen, schemenhafter werden.
Seltsam und »wuschig«
Der berufliche Geschichtenerzähler Andreas List verstand es wunderbar, die Zuhörer zu fesseln. Mit bühnengerechter Gestik, spannenden, dramatischen, auch mal witzigen Elementen schaffte er es, dass sich die Gäste schließlich mitten im Geschehen bei Gwion, Hexen und Königen wähnten. Wer Peteronius Paternoster gelauscht hatte, wundert sich nicht, dass Geschichten jahrhunderte- und jahrtausendelang ihren Weg von Zelt zu Zelt gefunden und bis heute überlebt haben. Als Gwion für lange, lange Zeit auf dem Meer der Geschichten trieb, wurden auch die Zuhörer auf eine kleine Reise geschickt, angeführt von Herold Carolan (Carolan Lieb aus Weilburg) und Peteronius Paternoster.
Mittelalter – auch die Zeit, in der hässliche Trolle, stolze Zwerge, Feen, Elfen oder solch redselige Geschöpfe wie Wuschpucken noch Raum im Leben und Denken der Menschen fanden. Wenn jemand ganz »wuschig«, also durcheinander ist, kann es wohl daran liegen, dass derjenige einer Wuschpucke begegnet ist, diese so viel gequasselt hat, dass man sprichwörtlich nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht. Im Sagen- und Legendenwald erwarteten die Künstlerin Iris Schenk und Musiker Oli Loeser aus Berlin (»Vom kleinen Volke«) zusammen mit farbenprächtigen, oft seltsam und geheimnisvoll aussehenden Fabelwesen die Zeitreisenden. Hinter jeder der selbstgefertigten Figuren verbirgt sich eine packende, außergewöhnliche Legende. Und die mittelalterliche Herkunft so mancher Redensart, wie »Dir sitzt wohl der Schalk im Nacken« wurde enthüllt, untermalt mit Laute- und Dudelsackklängen. Die Zuschauer durften sich die Puppen selbst aussuchen und die Ohren spitzen. Iris Schenk lebte förmlich mit, ihre Leidenschaft für die skurrilen Wesen und ihre Zeit war unschwer zu erkennen. Der Grund, warum das Publikum gar nicht genug bekommen konnte. Hungrig von so viel Abenteuern wurde auch gespeist, an Wein und Speckkuchen durften sich alle laben.
Tanz im Fackelschein
Welchfantastisches Bild, vor den angestrahlten Gebäuden die historische Tanzgruppe Masseny aus Biberach zu erleben, die sich zu heiteren, leichten Klängen, gekleidet in farbenfrohen, mittelalterlichen »Gewandungen« anmutig im Fackelschein bewegte. Wahrhaft: »Zelt-Mystik« geriet zum Geschichtsunterricht par exellence.
»Ein wirklich eindrucksvoller Abend, das ist mal etwas ganz Anderes«, hörte man es ab und an lobend durch die Reihen tuscheln. Ja, eine besondere Idee der Initiatoren des »Kultursommers«, die Gäste einmal selbst auf die Reise zu schicken.