Beklemmende Geschichte zum Start von »kinderleicht & lesejung«

(Bild 1/2) Vor Neunt- und Zehntklässlern eröffnete Anja Tuckermann, Preisträgerin des Leselenz-Preises der Thumm-Stiftung für Junge Literatur, gestern in der voll besetzten Hausacher Stadthalle die Woche »kinderleicht & lesejung«. ©Claudia Ramsteiner
Rund 1400 Schüler aus der ganzen Ortenau begegnen in dieser Leselenz-Woche »kinderleicht & lesejung« Autorinnen und Autoren. Zum Start las gestern die Leselenz-Preisträgerin Anja Tuckermann vor Neunt- und Zehntklässlern aus ihrem Buch »Mano«.
Sieben Jungen versuchen, sich in klirrender Kälte dorthin durchzuschlagen, wo sie ihr Zuhause vermuten. Mano besitzt keine Schuhe, seine Füße sind geschwollen, seine Schienbeine voller Wunden. Es ist Kriegsende, der elfjährige Sinto-Junge kommt gerade aus dem KZ Sachsenhausen.
Sie ist eine zierliche Person, die Leselenz-Preisträgerin Anja Tuckermann, mit ruhiger Stimme, mal lesend, mal erzählend, zieht sie die ganze Stadthalle voller Neunt- und Zehntklässler in ihren Bann mit der Geschichte des Sinto-Jungen Mano. Zunächst erläutert sie die Begriffe: »Sie nennen sich Sinti, international heißen sie Roma – und früher hat man Zigeuner gesagt. Sie mögen das nicht, weil dies das Wort ist, mit dem sie beschimpft und ermordet wurden.«
Wie einer überlebt, der überlebt hat
Jene, die sich Sinti nennen, leben vorwiegend in Deutschland, Polen, Vorderitalien und Frankreich, und »das Wichtigste, was ihr wissen müsst: Es sind Deutsche seit mehr als 600 Jahren!« Anja Tuckermann erzählt von den beiden alten Männern Mano und seinem Cousin Hugo, die viele Jahrzehnte die Geschichte ihrer Kindheit verdrängten, weil sie viel zu schrecklich war. Und die irgendwann beschlossen, sie nun doch zu erzählen – denn wenn sie stürben, wüssten die jungen Leute nicht, was geschehen ist.
In »Denk’ nicht, wir bleiben hier« hat sie die Geschichte der Großfamilie Hellenreiner und die Zeit des jungen Hugo im KZ beschrieben. »Mano« ist quasi die Fortsetzung – wie es einem Sintojungen nach dem Krieg erging, wie »einer überlebt, der überlebt hat«. Anja Tuckermann erzählt, wie sie eineinhalb Jahre lang jeden Monat zu Mano gefahren ist, wie er manche Dinge immer wieder von vorn erzählt hat. »Er nahm immer wieder Anlauf, jedes Mal erzählte er etwas mehr, und es wurde jedesmal schlimmer und schmutziger.« Auch seine Frau und seine Tochter seien dabei gesessen und hätten dies alles zum ersten Mal gehört.
Hölle im KZ
Einfühlsam und packend schildert die Autorin die Hölle, die der Junge mit der KZ-Nummer Z 3562 durchlebt hat und wie sie erst nach und nach in den Gesprächen mit dem heute 80-jährigen Mano Verhaltensmuster von damals verstanden hat. Warum er sich an jeden Teller klammerte – weil es im KZ überlebenswichtig war, seinen Napf nicht zu verlieren oder ihn sich stehlen zu lassen. Denn ohne Napf gab es nicht einmal die dünne Wassersuppe, die gerade mal so zum Überleben reichen musste.
Oder warum er, nachdem er liebevoll von einer Familie in Frankreich aufgenommen worden war, aus einer Kapelle stürmte, als er dort das »Vater unser« auf Deutsch hörte. Nachdem Mano den Hass der Franzosen auf die Deutschen mitbekommen hatte, hatte er seine Herkunft unter Todesängsten verschwiegen.
Von Mano und Hugo hatte Anja Tuckermann auch erfahren, wie das ist, wenn man hungert und sterben will. »Doch man stirbt nicht so einfach. Zuerst lässt das Augenlicht nach, dann das Kurzzeitgedächtnis.« Die Gesichter ihrer jungen Zuhörer sind unergründlich. Es ist still in der großen Halle. Aber es traut sich auch nach den aufmunternden Worten der Autorin niemand zu fragen. Möglicherweise bräuchte es dazu den intimen Rahmen eines Klassenzimmers und weniger Abstand zur Lesenden.
Briefe an Mano
Sie stehe aber gern auch danach noch für Fragen zur Verfügung, und sie könnten ihr diese auch schreiben. Anja Tuckermann ermunterte die Jugendlichen auch, Briefe an Mano zu schreiben. Er könne diese nicht beantworten, weil er selbst nie lesen und schreiben gelernt habe. Als Mano mit 13 Jahren zu seiner Familie zurückkehrte, gab es in den Schulen noch immer die alten Nazi-Lehrer, die Buben wie ihn nicht unterrichten wollten: »Aber die Familie liest im die Briefe vor und er freut sich sehr darüber!«
Leselenz heute
In dem neuen Format »Vers-Schmuggel« begegnen sich heute, Dienstag, um 20 Uhr in der Pizzeria »Schlossberg« die Lyrikerinnen Birgit Kreipe aus Deutschland und Božena Správcová aus Tschechien sowie der Sprachmittler und Interlinearübersetzer Markus Kratsch.