Die Empörung des Herrn X

Stefan Schmitzer aus Graz ist von Februar bis Mai der 24. Hausacher Stadtschreiber. ©Claudia Ramsteiner
Stefan Schmitzer lebt seit Mitte Februar bis Mitte Mai als Gisela-Scherer-Stipendiat und Hausacher Stadtschreiber im Molerhiisle im Breitenbach und schreibt immer mittwochs eine Kolumne, in der er den Lesern des Offenburger Tageblatts unter anderem auch Einblicke in die Innenpolitik Österreichs geben will – die zur deutschen durchaus Parallelen aufweist:
Mein lieber Herr Gesangsverein, sehr geehrtes Tagebuch! Am 9. März gab es eine Diskussionsveranstaltung in Dresden, bei »unerwartet großem Publikumsinteresse«, da durfte ein bedeutender deutscher Schriftsteller einem maximal erregten Medienpersonal nebst angeschlossener Öffentlichkeit den Gedanken (mehr raunend andeuten als) darlegen, es herrsche Meinungsdiktatur in Deutschland.
Das bemerke man insbesondere daran, dass z.B. er von »den Medien« mundtot oder lächerlich gemacht werde, wenn z.B. er im Namen »der Menschen« »den Eliten« reinsage, dass man mundtot gemacht werde, wenn man sich mal traue, zu sagen, dass man mundtot gemacht werde, wenn man sich mal traue, zu sagen, dass man mundtot gemacht werde, wenn man … usw. usf. ins Unendliche.
[»Sag an, Väterchen Schmitzer, gab es auch ein Tatsachensubstrat, auf das jener infinite Regress sich ursprünglich mal hätte beziehen sollen?« – »Ei freilich, Strohmännlein, gut, dass du fragst! Es ging um die Frage, wie in Zukunft mit der Präsenz von erkennbaren Faschisten auf den deutschen Buchmessen umgegangen werden solle; genauer: Ob man da wohl auch auf die richtige Art und Weise tolerant genug sei gegenüber diesem völlig neuen Phänomen, mit dem man gerade in Deutschland ja noch nie schlechte Erfahrungen gemacht hat.« – »Sag Väterchen … so, wie du da redest: Ist es das, was sie Sarkasmus nennen?« – »Nö. Trollinger. Und an den Grenzen seiner Leistungsfähigkeit.«]
Totgeschwiegen
Eigentlich war die Veranstaltung angelegt als eine Diskussion zwischen jenem bedeutenden deutschen Romancier, dessen Namen ich hier nicht nennen werde (da er schon darauf besteht, totgeschwiegen zu werden, kann dem in wenigstens diesem einen Beitrag Rechnung getragen werden, oder?), und einem anderen erfolgreichen Kollegen: Durs Grünbein, von der Qualifikation her eigentlich zuständig für fein gewirkte Bildungsbürgerlyrik, hatte an jenem Abend die undankbare Rolle des Stichwortgebers inne, ruhig und langweilig und beseelt von der notwendig bräsigen Ergriffenheit eines Gemeinschaftskundelehrers, der zu den Kinderleins zum allerersten Mal von der Gewaltenteilung spricht. Aber Grünbeins Auftreten war nicht, was die Schlagzeilen bzw. die Klicks generiert hätte – dafür reichten die Tiraden jenes andern Herren hin, da er sich beschwerte, man ignoriere ihn, und mit ihm »die Menschen«, so skandalös.
Herrn X »Argumentation« bewegte sich entlang einer Reihe von Anekdoten, denen gemeinsam war, dass sie ad hoc unwiderlegbar, emotional aufgeladen und absichtsvoll unsystematisch aneinandergereiht waren, durch nichts außer das Pathos von ohnmächtiger Empörung verknüpft. Das hieß zwar, dass es keine klar bezeichenbare These, kein Programm gegeben hätte, von dem Herr X sein Gegenüber hätte überzeugen können – das hieß aber auch, dass jeder Versuch, ihn zu widerlegen, in diesem Setting notwendig unmöglich war.
So generiert man Konflikt, so bauscht man Narrative auf, so verkauft man was auch immer. Wer indes keinen Bock drauf hat, sich in diesen Unfug hineinziehen oder sich vereinnahmen zu lassen, wer die relevanten Gespräche und Zeitungsmeldungen aber trotzdem mitverfolgen will, für den empfiehlt sich beim Zuhören m.M.n.:
»Stets herunterbrechen«
Sobald Empörung aufkommt und jemand von »Grenzen« zu reden anfängt, oder von Eigenschaften, die »uns« bzw. »denen« zukommen: das immer herunterbrechen auf die eigenen individuellen Körpergrenzen, seelischen Schmerzgrenzen, Identitätsgrenzen dessen, der da redet. Niemand ist so wütend und ergriffen wie Herr X am neunten März (oder wie leider z.B. auch der österreichische Vizekanzler im Gespräch über die Grenzen Südtirols, oder des Kosovo), wenn er sich nicht zuinnerst selbst gemeint fühlt.
Aus »Ich habe Schulden und meine Frau will Fernreisen machen, die ich mir nicht leisten kann.« kann z. B. werden: »Das Volk [=Ich] wird vom Feminismus [=meine Frau] und der Globalisierung [=Fernreisen, Schulden] bedroht.« Oder: Aus »Im Umgang mit Frauen [bzw. Männern] fühle mich unsicher« mach »Offene Grenzen [=körperliche Nähe] zerstören unsere [=meine] Identität.« Oder: »Ich will mehr Bücher verkaufen!« [»Die Menschen werden ignoriert.«]
In diesem Sinne: Fröhliches Blumenpflücken, entspanntes Debatten-Anhören!