Hausacher Stadtschreiber-Tagebuch (2)

Joachim Zelter schreibt aus dem Molerhiisle

Joachim Zelter
Lesezeit 5 Minuten
Jetzt Artikel teilen:
01. März 2017

Joachim Zelter aus Tübingen ist der 21. Hausacher Stadtschreiber. ©Yvonne Beradi

Jochaim Zelter lebt seit Mitte Februar bis voraussichtlich Mitte Mai als Gisela-Scherer-Stipendiat und Hausacher Stadtschreiberin im Molerhiisle im Breitenbach und schreibt jede Woche für die Leser des Offenburger Tageblatts eine Kolumne:

Ich muss gestehen, dass ich ein Fasnetbanause bin, ja ein Fasnetanalphabet. Selbst der zweite und dritte Bildungsweg zu diesem Ereignis blieb mir bislang verschlossen. In Freiburg aufgewachsenen, erlebte ich die Fasnet nur an den Rändern einer preußisch-protestantischen Kindheit. Schon das Wort Fasnet verstand ich damals völlig falsch, eben nicht als Vorabend zur Fastenzeit, sondern im Sinne von: Fast nett. In der Fasnet, so dachte ich, seien die Menschen fast ein wenig nett. Deshalb also das Wort Fasnet.  

Hausacher Bürger versuchten mich, den Fasnet-unbedarften, den Fasnetinvaliden, behutsam auf das Kommende einzustimmen. Man bereitete mich auf eine Art Kulturschock vor. Fasnet von null auf hundert, sagte ein besorgter Hausacher, das werde für einen Tübinger heftig werden. Vorsicht Narrentreiben, stand auf einem Schild, und ich wollte schon Deckung nehmen. Doch mit unendlich viel Nachsicht und Rücksicht nahmen mich die Hausacher bei der Hand und führten mich ein in die Welt der Fasnet.  

Es begann mit dem Schnurren im Gasthaus zur Blume – und das war kein Kulturschock, sondern die Widerlegung all meiner Vorbehalte. Denn die Schnurranten machen eigentlich nichts anderes als was ein Schriftsteller macht. Der Schriftsteller schreibt in der Regel über das Missgeschick. Das ist ein Urgrund des Schreibens, und es ist auch die Triebfeder des Schnurrens. Am Anfang steht das Missgeschick, das menschliche und allzumenschliche Missgeschick. Sei es nun das Missgeschick eines anderen, aber auch ein eigenes Missgeschick – Missgeschicke über Missgeschicke in all ihren Verästelungen, Spannungsbögen und Fallhöhen. Vor allem aber in ihrer ganzen Tragikomik. 

Dramatisch-literarisch

- Anzeige -

Man leidet mit und man lacht mit. Das ist ein dramatisch-literarischer Akt. Denn mit der Darstellung von Missgeschicken ist es ja nicht getan. Die Schnurranten bringen das alles in eine literarische Form: in eine Versform oder in eine Erzählform. Narrare humanum est. Erzählen ist menschlich. Doch Schnurren ist viel mehr als das. Es ist ein Drama, wenn die Leiden und Missgeschicke Hausacher Mitbürger in herzzerreißenden Dialogen nachgesprochen werden, im Tonfall der Betroffenen, die Sätze und Pointen punktgenau. Alle Gattungen der Literatur waren an diesem Abend in Aktion: Lyrik, Prosa, Drama – und natürlich die Musik. Also ein fulminantes Gesamtkunstwerk. Ein Feuerwerk der Künste, aber auch ein Feuerwerk der Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit, das Inbild einer pulsierenden Gemeinschaft. Denn ohne ein Gemeinwesen würde das Schnurren ja nicht funktionieren. Die Schnurranten nehmen Bezug auf Menschen, die sich kennen, ihre Eigenheiten, Auffälligkeiten und Besonderheiten. Es ist ein Akt der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit, eine Form von gelebtem zwischenmenschlichem Interesse. Bei manchen Darbietungen der Schnurranten dachte ich: Bei aller Schadenfreue – eigentlich ist das Schnurren ein Liebesbeweis.

Fulminanter Reigen

Die weitere Fasnet erlebte ich als fulminanten Reigen: Der Sturm des Rathauses, die Schlüsselübergabe, der Zauber zauberhafter Rathausfrauen, die aus dem Stegreif Obama in den Sitzungssaal zauberten, und den hineinpolterten Trump einfach wegzauberten. Und dann der Ausruf: Jetzt geht es los. Sechs Tage und sechs Nächte. Am dritten Tag dann der große Närrische Umzug. Mit jedem Meter ffnete sich das Tal ein wenig mehr zu einem Meer an Farben, Kostümen und Masken. Oscar Wilde rief mir ins Ohr: Gebt den Menschen Masken, und sie werden die Wahrheit sagen. Alles Weitere erinnere ich nur noch im Rausch fliegender Bonbons und fliegender Hexen. Datschkuchen und schneeweiße Konfettiloipen. Der Tanz von Nacht- und Burgfrauen. Ein Blick auf die Uhr, und es war 11 Uhr abends. Im nächsten Augenblick begann bereits die Elfemess.

Und so ging es weiter. Es war die Widerlegung, Verkehrung, Steigerung, Übersteigerung all dessen, was ich bisher nur ganz vage und ansatzweise unter Fasnet verstanden hatte. Sie ist ein eigener Kosmos, eine eigene Jahreszeit, eine eigene Welt(un)ordnung. Oder mit Aristoteles: Sie ist ein Rausch der Sinne und Gefühle, in einer solchen Ausdehnung und Wucht, bis man irgendwann gereinigt ist. 
Übrigens: Für die leidige Fastenzeit empfehle ich Shakespeare. Nirgendwo in der Weltliteratur gibt es so viele Narrenfiguren wie bei Shakespeare. Sie agieren das ganze Jahr. Denn das ganze Jahr ist die Welt aus den Fugen und bedarf deshalb der Narren als ständiger Instanz. Shakespeares Narren nehmen die Tor- und Narrheiten der Welt auf sich, auf sich und ihren subversiven Witz. Sie vergegenwärtigen der Welt (und ihren Herrschern) ihre fundamentalen Dummheiten. Sie führen die Herrschenden vor. Damals wie heute.

Wenn man sich selbst erkennen will, dann braucht man Narren, sei es nun Narren wie bei Shakespeare oder Narren wie in der Hausacher Fasnet. Ich habe mich in der Fasnet wiedererkannt. Und mich zugleich nicht mehr wiedererkannt. Vielleicht ist das eine erste kleine Lektion eines Ahnungslosen, der zum ersten Mal bei lebendigem Leib die Fasnet erlebt hat.
 

Weitere Artikel aus der Kategorie: Kinzigtal

Erfolgreiche Lehrlinge bei Hansmann Bau (von links): Luca Ringwald (Haslach), Linus Rothfuss (Wolfach), Jonathan Hirt (Haslach-Schnellingen), Ausbilder Jonathan Hansmann, Tobias Neumaier und Vincent Pfaff (Haslach-Schnellingen).
vor 6 Stunden
Haslach im Kinzigtal - Schnellingen
Die Besten (8): Wir stellen die Prüfungssieger des Jahres vor. Gleich fünf Auszubildende des Haslacher Bauunternehmens Hansmann wurden bei den Maurern ausgezeichnet.
Eine Delegation aus Hofstetten mit Bürgermeister Martin Aßmuth (Mitte) hat den von der Gemeinde gespendeten Weihnachtsbaum in Berlin feierlich übergeben. 
vor 9 Stunden
Hofstetten
23 Hofstetter sind nach Berlin gereist und waren mit dabei, als der von Hofstetten gespendete Weihnachtsbaum vor der Landesvertretung Baden-Württemberg feierlich aufgestellt wurde.
Der Nabu Mittleres Kinzigtal hat in diesem Jahr wieder den Amphibienschutzzaun entlang der Landstraße zwischen Steinach und Haslach aufgebaut.
vor 12 Stunden
Kinzigtal
Der Nabu Mittleres Kinzigtal hat sich zu seiner Hauptversammlung in Steinach getroffen. Wichtige Aktivitäten waren die Umsiedlung der Kröten und die Rettung der Vögel.
Nicolas Rohrer auf dem roten Teppich vor der Regierungsmaschine, mit der die Delegation um Olaf Scholz anreiste.
vor 18 Stunden
Hofstetten
Nicolas Rohrer, Geschäftsführer des Hofstetter Unternehmens Asantys, durfte Bundeskanzler Olaf Scholz als Teil einer Wirtschaftsdelegation auf dessen jüngster Afrika-Reise begleiten.
Stadtarchivar Michael Hensle­ berichtete über das NS-Sondergericht in Freiburg und eine interessante Verbindung nach Hausach. 
vor 21 Stunden
Hausach
Im Vortrag des Stadtarchivars Michael Hensle im Hausacher Museum im Herrenhaus ging es um den Hausacher Erich Matt und die Gefahr des "Abhörens ausländischer Radiosender" unter Hitler.
Von Schiltach gibt es künftig mehr Busverbindungen nach Rottweil. 
vor 23 Stunden
Schiltach
Am Sonntag, 10. Dezember, gibt es einen Fahrplanwechsel. Es wird unter anderem einige zusätzliche Verbindungen und mehr Direktfahrten im oberen Kinzigtal geben.
Auch der Stand des Hausacher Bärenadvens mit den Anne-Maier-Bären und vielem mehr wird wieder auf dem Hausacher Weihnachtsmarkt sein. 
07.12.2023
Hausach
Der Hausacher Klosterplatz bietet mit seinem Adventswald wieder eine einmalige Kulisse für den Weihnachtsmarkt, der dort morgen, Samstag, von 9 bis 21 Uhr und am Sonntag von 12 bis 18 Uhr mit vielen handwerklichen, sozialen und kulinarischen Angeboten lockt.
Seit 21 Jahren erarbeitet der Hausacher Kämmerer Werner Gisler mit seinem Team den Haushalt für die Stadt Hausach und erläutert ihn kompetent und verständlich. Am Mittwochabend zum letzten Mal, er wird im Sommer 2024 seinen Ruhestand antreten. 
07.12.2023
Hausach
Nach riesigen Investitionen in den vergangenen fünf Jahren legt die Stadt Hausach mit ihrem Haushalt für 2024 eine Atempause ein. Wichtiges und Notwendiges wird dennoch finanziert.
Der neue kleinere Bergmäher für die Landwirte in Bollenbach wird nach einer Testphase noch in diesem Jahr gekauft.
07.12.2023
Haslach im Kinzigtal - Bollenbach
Die Bollenbacher Ortschaftsräte haben darüber beraten, welche Maßnahmen für sie im kommenden Jahr wichtig sind. Ein neuer, kleinerer Hangmäher wird noch in diesem Jahr gekauft.
Die Veranstalter der Sonderausstellung "Weihnachtskrippen" im Steinacher Heimatmuseum sind nach der Halbzeit sehr zufrieden mit der Besucherzahl.
07.12.2023
Steinach
Besondere und handgemachte Krippen aus aller Welt zeigt die Weihnachts-Sonderausstellung im Heimat- und Kleinbrennermuseum Steinach, das an den nächsten beiden Adventssonntag geöffnet ist.
Auch ein schwebender Tisch gehörte zur großen Weihnachtsshow in der Schlosshalle mit dem Duo Stiehler/Lucaciu. 
07.12.2023
Wolfach
Das Experiment zur Premiere von „Mittwochs im Museum Spezial“ ist für den Verein Kultur im Schloss durchweg geglückt: Das Duo Stiehler/Lucaciu und Magier Alexander Straub verzauberten das Publikum mit ihrer „Weihnachtsshow“.
Die Jury hob die "subtil proportionierte" Bauweise und das "gestaltprägende" Dach des Martin-Luther-Hauses hervor. 
07.12.2023
Schiltach
Das Martin-Luther-Haus in Schiltach wurde vom Bund Deutscher Architekten Baden-Württemberg mit dem "kleinen" Hugo-Häring-Preis ausgezeichnet.

Das könnte Sie auch interessieren

- Anzeige -
  • Die Firmenleitung von Stinus (v.l.): Ferdinand Weber, Jürgen Knapp und Christian Schoenenberg. 
    06.12.2023
    "Wer gut geht, dem geht es gut" – Stinus sorgt dafür
    Gegründet im Jahr 1905 ist die Stinus Orthopädie GmbH heute zum Unternehmen mit 85 Beschäftigten an sieben Standorten angewachsen. Der klassische Komplettbetrieb wird von der fünften Generation weitergeführt.
  • Das Stadtquartier Rée Carré bietet viele verschiedene Aktionen in der Adventszeit an.
    25.11.2023
    Offenburg: Aktionen und Events im Stadtquartier
    In der Adventszeit pflegt das Rée Carré lieb gewonnene Traditionen. Das Stadtquartier erstrahlt im Lichterglanz und bietet neben Glühwein und den vertrauten vorweihnachtlichen Düften ganz besondere Events, um die besinnliche Zeit zu begehen.
  • Petro Müller, Inhaber des Autohauses Baral in Lahr (rechts), und sein Sohn Gerrit suchen noch einen Mechatroniker, um das Team zu verstärken. 
    21.11.2023
    Im Suzuki-Autohaus Baral wächst die nächste Generation heran
    Das Suzuki-Autohaus Baral in Lahr hat sich auf Kleinwagen – neu und gebraucht - spezialisiert. Inhaber Petro Müller und sein Team setzen auf Beratung und Meisterservice in der Werkstatt.
  • Sie halten die Tradition des Bierbrauens hoch im Brauwerk (von links): Der neue Betriebsleiter und Braumeister Martin Schmitt, Geschäftsführer Oliver Braun, Ulrich Nauhauser, der ausgeschiedene Betriebsleiter und Braumeister, sowie Rick Pfeffer, der neue Braumeister.
    21.11.2023
    Brauwerk Baden: Immer am Puls der Zeit
    Die alte und neue Generation der Braumeister des Brauwerks Baden bieten den Kunden neben traditioneller Braukunst auch nachhaltige Ideen und neue Trends.