Kolumne von Franco Supino

Franco Supino war im vergangenen Jahr Hausacher Stadtschreiber, er liest bei der Jugendliteraturwoche "kinderleicht & lesejung" beim Hausacher Leselenz. ©Andreas Buchta
Seit vergangenen Mittwoch prägt der Hausacher Leselenz das kulturelle Leben in Hausach. Bis zum Freitag lesen Sie an dieser Stelle eine Gastkolumne von Autoren, Leitern der Schreibwerkstätten und Moderatoren. Heute schreibt Franco Supino, Stadtschreiber vom vergangenen Jahr.
Lieber Xerdan Shaqiri, Sie haben gestern im Interview nach dem äußerst knapp verloren gegangenen Spiel gegen Polen auf die Frage, ob Sie sich über Ihr Tor, das schönste bisher an der EM, freuten, geantwortet: »Wie sollte ich? Nur der Sieg zählt.«
Sie haben unrecht, ich will es Ihnen erklären. Ich bin in Hausach, einer glücklichen kleinen Stadt in der Anfahrt zum mittleren Schwarzwald. Ich habe das letzten Winter als Stadtschreiber für drei Monate feststellen dürfen. Seit vorgestern bin ich wieder hier, Gast am Leselenz, und ich habe festgestellt, dass Hausach während dieses Literaturfestivals ein noch viel glücklicherer Ort ist als das Jahr über.
José Oliver, der hier als Gastarbeiterkind geboren wurde und heute ein berühmter Poet ist, wollte seiner Heimatstadt, in der er noch immer lebt, etwas zurückgeben. Und so organisiert er seit bald 20 Jahren dieses Literaturfestival, lädt über 60 Autorinnen und Autoren aus der ganzen Welt ein, die während zehn Tagen nacheinander lesen. Die Menschen von weit her, aber auch die Hausacherinnen und Hausacher strömen in Massen an die Lesungen.
Den Grund habe ich gestern, nachdem ich tief betrübt über das Schweizer ausscheiden wahllos in die nächste Lesung gegangen bin, wieder begriffen: Da las Luna Al-Mousli, eine junge Wiener Autorin, die mit 14 aus Damaskus nach Wien emigriert ist, Erinnerungsminiaturen aus ihrer Kindheit. Wie Sterne funkelten diese so ganz alltäglichen Texte, bescherten mir einen Glücksmoment nach dem anderen und löschten die Enttäuschung über das Ausscheiden der Schweiz.
Und wie bei Luna Al-Mousli geht es mir, uns Besuchern des Leselenzes bei allen Lesungen: seien es wunderbare Formulierungen, die man speichert (»Ich werde nie mehr mit Eichhörnchen und Schiffen/Unangemeldet vor deiner Haustüre stehen«, Thomas Kunst) oder kluge Gedanken, die nachhallen (»Sport am Fernsehen ist gaffen. Und gaffen ist vergessen«, Ilija Trojanow).
Es geht am Leselenz um Wichtigeres, stellte ich fest, als um Sieg oder Niederlage, als um gute oder schlechte Texte. Es geht um Augenblicke des Glücks. Hier erlebt man sie (im Gegensatz zum Fussball) immer, und deshalb gehört Hausach zu den glücklichsten Orten der Welt. Also, lieber Xerdan Shaqiri: Niederlagen und Siege sind vergänglich, Ihr Tor gestern werden noch unsere Ur-Enkel mit Bewunderung schauen, (während die Polen, wenn überhaupt, sich einzig am Ergebnis freuen werden).
Lernen wir von José Oliver, was die Hausacherinnen schon längst wissen: Wenn wir die Wahl zwischen einem Sieg und einem Augenblick für die Ewigkeit haben, wählen wir das Zweite. Danke Xerdan Shaqiri, danke Leselenz.