Aufrüttelndes Stück gegen Euthanasie in Gengenbach
Das Reutlinger Theater "Die Tonne" gastierte am Dienstag auf dem Gengenbacher Klosterplatz mit dem Stück „Hierbleiben, Spuren nach Grafeneck“. Die Schauspieler, die selbst gehandicapt sind, erinnerten eindrucksvoll und erschaudernd an die berüchtigten grauen Busse, die 1940 behinderte Menschen aus 25 Orten, darunter auch Fußbach, im idyllisch gelegenen Schlösschen Grafeneck (Gomadingen) ermordet wurden.
Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, etwa Arbeit, Nahrung und Unterkunft, wurden diese Menschen weggelockt. Die Angehörigen wurden systematisch mit falschen Todesursachen wie Herzinfarkt oder Blinddarmdurchbruch belogen, ihr Tod als Erlösung dargestellt.
„Name, Krankheit, Rasse!“, schreien scharfe Stimmen, die an Aufseher in einem Konzentrationlager erinnerten, über den Klosterplatz. Die Schauspieler antworteten gehorsam und gaben ihre heutigen Handycaps an: „Anne-Kathrin, Rechtschreibschwäche, deutsch“, „Seyyah, Infantile Zerebralparese, arabisch“ oder „Sauerstoffmangel bei der Geburt, Yaron, deutsch/jüdisch.“ Die Todesmaschinerie läuft mit dem Erfassen der Daten an, die Deportation folgt.
Beklemmend klingende Violine
Beklemmend dabei ist die musikalische Untermalung mit nur einer Violine, die an Wiener Schrammelmusik erinnert. „Kein schöner Land in dieser Zeit“, quietscht das Instrument einen grausamen Kontrast. Dann legen die Schauspieler aus zwei roten Seilen ein Hakenkreuz auf das Pflaster. So lange sich die Darsteller linientreu bewegen, ist alles gut. Doch plötzlich werden die beiden Seile zusammengeknüllt, das Hakenkreuz ist verschwunden.
Wieder zerschneidet eine messerscharfe Stimme die Luft: „Wer war das?“ Doch keiner antwortet. „Also alle!“ Unerbittlich hämmert eine mechanische Schreibmaschine Akte um Akte. „Schwindsucht, Blinddarmdurchbruch, Herzversagen.“ Die Todesakten werden schon geschrieben, der Transport rollt aber nach Grafeneck.
Wieder ist die Szenerie beklemmend. Die Violine schluchzt, dieses Mal „Hoch auf dem gelben Wagen“. Einige Schauspieler singen den Refrain: „Ich möchte so gerne noch bleiben, aber der Wagen der rollt.“ In Grafeneck angekommen, werden die Menschen mit menschenverachtendem Zynismus begrüßt: „Willkommen in Grafeneck. Bitte ziehen Sie sich aus und begeben Sie sich zu den Duschen.“ Die Schauspieler schleppen Gaskartuschen an und hängen diese in Gestelle.
Dazu gibt es nüchtern sachliche Informationen zu Kohlenmonoxid. Es ist giftig, weil es stärker an die roten Blutkörperchen bindet als Sauerstoff und so den Sauerstofftransport durch das Blut unterbindet. Das führt zum Erstickungstod. T4 nannten die Nazis die Aktion, mit der 70000 körperlich oder geistig behinderten Menschen, davon 10654 in Grafeneck, so ermordet und eingeäschert wurden. Die Urnen wurden mit „Trostbriefen“ an Angehörige verschickt.
Schuldfrage verneint
1970 wird der Arzt Horst Schumann in Frankfurt angeklagt. Er war für die Tötung in Grafeneck verantwortlich, für Gräueltaten in Pirna-Sonnenstein und Auschwitz. Dort erprobte er die Zwangssterilisation mittels Röntgenstrahlen.
Die Frage, ob er sich im Sinne der Anklage schuldig fühlt, verneint er. „Wir mussten es tun, wir hatten keine andere Wahl“, sagt eine Mitarbeiterin, die in der Schreibstube Krankheiten erfand, an denen die Ermordeten gestorben seien. Damit beleuchtet das Theater in der Tonne auch die abgrundtiefe menschliche Seite der Täter.
Das Stück endet mit dem Verteilen bunter Plakate. Darauf ist jeweils ein Gesicht zu sehen. Darüber prangt das Wort „Miteinander“. Diese Botschaft war eindringlich und gilt auch in heutiger Zeit. Das Theater macht Station an 25 Orten, aus denen Menschen in Grafeneck getötet wurden.