Der Certus: Automobilgeschichte in Offenburg
Offenburg, die Autostadt? Das war womöglich der kühne Traum der Erfinder des Certus – jenes Autos, das Ende der 20er-Jahre in feiner Handarbeit in der Moltkestraße gebaut wurde. Knapp 50 Exemplare verließen die Werkstatt. Heute erinnert kaum noch etwas daran – der Certus scheint wie in Luft aufgelöst. Was war das für ein Auto? Eine Spurensuche.
»Es ist ein Mysterium auf vier Rädern«, sagt Holger Herrmann Schneider, angesprochen auf den Certus. Der Mitorganisator der Oststadt-Rundgänge in Offenburg hat bereits zahlreiche Dokumente zur Offenburger Historie gesammelt. Vom Certus jedoch ist ihm dabei nichts untergekommen. Auch Zeitzeugen aus jener Epoche, befürchtet er, gibt es nicht mehr.
Firma 1919 gegründet
Wir haben uns deshalb durch Unterlagen im Stadtarchiv und in Automobilarchiven gewühlt, um die Geschichte des Certus nachzeichnen zu können. Ihren Anfang nimmt sie demnach bereits im Jahr 1911, als sich der gelernte Karosseriebauer und ausgebildete Fahrlehrer Franz Wroblewski aus Thüringen in Offenburg niederlässt. Acht Jahre später, im Jahr 1919, gründet er mit seinem Freund Wilhelm Dierks die Karosseriefabrik »Dierks & Wroblewski«. Das Büro entsteht in der Wilhelmstraße 16, zum 1. Januar 1920 pachten die beiden das Gelände auf der Ihlenfeldkaserne. Am 4. März 1922 kaufen sie einen Teil des Areals, mitsamt Patronenschuppen und Exerzierhalle – der heutigen Reithalle, in der sich die Certus-Produktion befunden haben soll.
Als Karosseriebauer und Zulieferer für Autoteile hat »Dierks & Wroblewski« zunächst die Firmenvertretung von Dürkopp – die damals noch eigene Autos bauten – und von Büssing für Lkw und Omnibusse. Außerdem werden Reparaturen für alle gängigen Pkw-Fabrikate angenommen. Die kleine Offenburger Firma hat dementsprechend alle für den Autobau erforderlichen Abteilungen im Haus – dass da Gedanken an den Bau eines eigenen Pkw laut werden, erscheint naheliegend. Im Sommer 1927 ist es dann so weit: Die Geburtsstunde für den Certus schlägt.
Mit Ausnutzung der eigenen Wagnerei, Polsterei und Lackiererei fertigt die Firma in Offenburg allerdings lediglich die Karosserie und kauft andere Bauteile bei externen Anbietern. So kommen beispielsweise die Motoren von der Firma Scap in Courbevoie bei Paris, und Bosch liefert die Elektrik.
Kein Modell hat überlebt
Der Certus wird noch nicht am Fließband, sondern von Mechanikern in akkurater, hochwertiger Handarbeit als Zwei- und Viersitzer gebaut. Auf Wunsch mit abweichender Karosserie, handwerklich in der eigenen Schreinerei gefertigt und mit Blech überzogen. Daher verlassen – trotz offenbar großer Nachfrage – weniger als 50 Certus-Exemplare das Werk bis 1929. Sogar in Ostpreußen und im Rheinland findet der Certus Abnehmer. Manche Kunden holen ihr Auto selbst ab und verbinden dies mit einem Besuch im Schwarzwald. Sonst werden die Wagen auf dem Offenburger Güterbahnhof verladen.
Heute gibt es offenbar kein Certus-Modell mehr, das die Jahrzehnte überdauert hat. Wenn doch, so hätte es als Rarität einen ungeheuren Wert. Die Wirtschaftskrise setzte der Produktion 1929 ein jähes Ende.
Nur noch ein Foto in bescheidener Qualität scheint es vom Certus zu geben. Laut Dokumenten aus dem Deutschen Automobilarchiv wurde das Auto als 32-PS-Vierzylinder sowie als 45- und 55-PS-Achtzylinder angeboten. Außerdem habe die Werbung Fahrzeuge mit 60- und 80-PS-Kompressormotoren versprochen.
Certus fährt Rennen
In alten Ausgaben der »ADAC-Motorwelt«, die der Oldtimer-Liebhaberverein »Zwischengas« gesammelt hat, lassen sich noch Lebenszeichen vom Certus finden: So druckte das ADAC-Blatt am 9. September 1927 Ergebnisse eines Tourenwagenrennens ab, laut denen ein gewisser Rennfahrer namens Hensel auf einem Certus den fünften Platz belegt haben soll.
Weiter listet das Magazin am 2. März 1928 unter der »Aufstellung der deutschen Vier-, Sechs- und Achtzylinderwagen« die beiden 45- und 55-PS-Certus. Und am 4. Mai 1928 fragte die »Motorwelt« ihre Leser schließlich: »Welche Erfahrungen haben Clubmitglieder mit Certus-Personenkraftwagen, 7/32 und 8/45 PS, gemacht?« Eine Antwort erreichte die Redaktion offenbar nie.
Stadtarchiv-Unterlagen belegen indes, dass das Ihlenfeld-Grundstück mitsamt der Certus-Fabrik am 26. Februar 1930 in einer Zwangsversteigerung unter den Hammer ging. Eine gewisse Maria Luise Krieger erwarb das Areal. Die Stadt kaufte es ihr am 8. Oktober 1930 ab.
Der Geist lebt weiter
Für den Certus-Mitgründer und leidenschaftlichen Rennfahrer Franz Wroblewski geht es nach der Produktionspleite in Offenburg weiter. Er bleibt und eröffnet bereits am 1. Januar 1929 mit seiner Frau Luise eine Fahrschule in der Hauptstraße. In den 30er-Jahren expandieren sie mit einem Fachgeschäft für Last- und Personenkraftwagen in der Schutterwälder Straße.
Am 7. November 1949 stirbt Franz Wroblewski offenbar völlig unerwartet. Seine Frau führt das Unternehmen zunächst weiter und übergibt es Anfang der 50er-Jahre an Tochter Lisa und ihren Ehemann Hermann Kuhn. »Wroblewski« führen sie als Unternehmensnamen fort – die Firma in der Schutterwälder Straße gibt es bis heute.
Und noch ein Überbleibsel gibt es aus der Certus-Zeit: Der Rammersweierer Andreas Basler († 2002) machte von 1925 bis 1928 seine Lehre zum Autoblechner im Werk in der Moltkestraße. 1933 gründete er den »Basler Karosseriebau« in Offenburg, der mittlerweile von seinem Sohn Frank weitergeführt wird.
Auch wenn es also vom Certus selbst offenbar keine Hinterlassenschaft mehr gibt – der Geist seiner Erfinder Wilhelm Dierks und Franz Wroblewski lebt in der Stadt weiter.
- LESERAUFRUF: Wie die Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen gestaltete sich bisweilen das Unterfangen, ein Bild des Certus oder Zeitzeugen ausfindig zu machen. Falls Sie, liebe Leser, uns weiterhelfen können und ein Foto des Offenburger Automobils besitzen oder davon erzählen können, kontaktieren Sie bitte unseren Autor per E-Mail an: bastian.andre@reiff.de. Einige Fotos haben uns schon erreicht: Hier klicken.
Die Ihlenfeldkaserne hatte viele Nutzer
Das Certus-Produktionswerk war nicht die einzige Einrichtung, die in der Ihlenfeldkaserne ein Zuhause fand. 1896/97 erbaut, war die Kasernenanlage zunächst ein umfangreiches Militär-Areal. Rund um den Exerzierplatz befanden sich Funktionsbauten wie das Munitionshaus, das Latrinengebäude und die Reithalle. 1908 erfolgte eine Erweiterung nach Süden.
Mit Ende des Ersten Weltkriegs verließ das Militär die Kaserne. Von da an begann die Stadt, freie Räumlichkeiten teilweise an Unternehmen und Gewerbe zu verpachten. Dazu zählte auch die Firma »Vivil« von August Müller, der 1919 aus Straßburg ausgewiesen wurde. Er fand in der Kaserne einen neuen Platz für die Produktionsstätten seiner Pfefferminzbonbons.
1933 beanspruchten die Nationalsozialisten das Kasernen-Areal für sich und richteten während des Krieges ein Reservelazarett für Verwundete ein. Nach 1945 wurde die Anlage bis 1990 von der französischen Armee genutzt. Als diese die Kaserne 1991 verließ, erwarb die Stadt für knapp 15 Millionen Mark die gesamte Anlage. Der Gemeinderat beschloss, kulturelle Einrichtungen in den Räumlichkeiten unterzubringen. So fanden die Stadtbibliothek sowie die Musik- und Kunstschule darin ihr Zuhause. (ba)