Drei »Hütekinder« berichteten von ihrer Arbeit

Der Offenburger Egon Ketterer musste in seiner Jugend als »Hütekind« Knochenarbeit leisten. ©Ulrich Marx
»Hütekinder im Schwarzwald« hieß der Titel des Buchvortrages der Kulturwissenschaftlerin Julia Heinecke. Auf Einladung der Grünen war er Mittelpunkt des traditionellen Dreikönigs-Cafés am Freitag im Familienzentrum Innenstadt.
Die große Überraschung für die rund 200 Besucher: eine vermeintlich weit zurückliegende Geschichte wurde am Dreikönigstag zur Gegenwart. Denn drei nunmehr hochbetagte »Hütebuben« saßen im Publikum und mischten die Erzählung von Julia Heinecke mit selbst erlebten Erinnerungen kräftig auf. Egon Ketterer (83), Offenburg, Karl Maier (80), Appenweier, und sein Bruder Willi (76), Neuried, waren als Kinder auf die Bauernhöfe des Schwarzwaldes zum Arbeiten verdingt worden. Genauso wie dem »Michael« aus dem Buch ist es ihnen dort ergangen. Heimweh, schwere Arbeit von frühmorgens bis in die Nacht, Hunger, körperliche und seelische Überforderung waren auch ihr Alltag. »Jeden Tag habe ich den Frack vollbekommen«, schildert Karl Maier, »ich weiß bis heute noch nicht warum.«
Hütekinder für das Vieh waren seit dem 19. Jahrhundert bis in die Neuzeit auf den Schwarzwaldhöfen billige Arbeitskräfte. Sie waren acht oder jünger bis höchstens 14 Jahre alt. Überwiegend Buben, aber auch Mädchen wurden vom ärmlichen Elternhaus weggeschickt, damit man dort einen »Esser« weniger hatte. Es gab einen regelrechten Markt für diese Kinder. Als trauriger Höhepunkt der Kinderarbeit galten die »Schwabenmärkte«, bei denen Kinder aus Vorarlberg, der Schweiz oder Tirol wie Sklaven versteigert wurden.
»Fetzen am Leib«
Diese waren nicht schulpflichtig, die Hütekinder aus unserer Region durften die Hirtenschule besuchen. Wenn der Lehrer nachsichtig war, ließ er sie schlafen, wenn nicht, gab es den Rohrstock. »Die Bauernkinder haben uns gehänselt«, erinnern sich die Maier-Brüder. »Wir haben nach Stall gerochen und trugen Fetzen am Leib.« Ob die drei Hütebuben ihren versprochenen Lohn bekommen hätten, fragte Autorin Julia Heinecke nach. Man hatte ihnen acht Mark im Monat zugesichert, dazu einen Anzug und ein Paar Schuhe. Es habe sogar eine Art Aufsicht der Behörde gegeben, einen gegenseitigen Vertrag. »Aber«, so Karl Maier, »wer an Weihnachten nicht mehr auf dem Hof war, der ist leer ausgegangen.«
Dabei war der Lohn von den Kindern so teuer erkauft worden. Neben Hüten wurden sie zu Waldarbeit, Ernte- und Hofdienst eingesetzt. Alles immer barfuß, keines der Kinder hatte Schuhe, bei Wind und Wetter gab ihnen ein Kartoffelsack Schutz. Und wirklich wahr ist die Geschichte, dass sie ihre verfrorenen Füße in warmen Kuhfladen aufwärmten, bestätigen die Drei. »Es kam auf die Bauern an, ob es den Kindern gut oder schlecht ging«, fügt Egon Ketterer an.
»Über den Fuß gefahren«
Historische Bilder im Buch zeigen allerdings Ausgrenzung bei Tisch und Hof. »Einmal ist der Bauer mit seiner Kutsche zur Kirche gefahren. Der hätte uns niemals mitgenommen«, erinnert sich Willi Maier. »Er ist mir über den Fuß gefahren, sodass ich ihn gebrochen habe.«
Allesamt Bettnässer
Im Jahr 1936 habe eine Untersuchung über den gesundheitlichen Zustand der Hütekinder stattgefunden, recherchierte Julia Heinecke. Das Ergebnis war entsetzlich, Risse, Wunden, Fehlbildungen durch die harte Arbeit, sogenannte Hütefüße, schlechte Zähne, Unterernährung, fast alle Kinder waren Bettnässer.
Was denn die Ursache der schlechten Behandlung war, wollte eine Zuhörerin wissen. Es habe zwar arme und reiche Höfe gegeben, erklärte Heinecke, »aber Schmalhans war in diesen Zeiten überall Küchenmeister«. Wenn also der Heimatdichter Heinrich Hansjakob ein Gedicht über »selige Hirtentage« verfasst hat, war dies allenfalls ein romantisierendes. Aber nun, so die drei Hütebuben, als sie noch einmal ihre Hirten-Peitsche mit dem Zwicker knallen lassen, »die Hütezeit hat uns geprägt«. Dann aber kommen bei Karl Maier die Tränen, »ich musste halt früh leben«, heißt überleben, »lernen«.
INFO: »Kalte Weide« von Julia Heinecke, www.die-schreibstatt.de.