Ex-Kulturchef schildert beispielhaftes Schicksal

Fliedner über Maygutiak-Aktion: „Das ist eine Verhöhnung“

Hans-Joachim Fliedner
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27. Mai 2020
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Ein Leben in „Rassenschande“: Hans-Joachim Fliedner zeichnet das Schicksal der Familie Schuhmacher nach. Das Bild zeigt das Paar 1937 mit ihrem gemeinsamen Sohn.

(Bild 1/2) Ein Leben in „Rassenschande“: Hans-Joachim Fliedner zeichnet das Schicksal der Familie Schuhmacher nach. Das Bild zeigt das Paar 1937 mit ihrem gemeinsamen Sohn. ©Archivfoto

Ex-Kulturchef Hans-Joachim Fliedner erklärt in einem Gastbeitrag am Beispiel eines tragischen Schicksals, wieso er die Plakat-Aktion von AfD-Stadtrat Taras Maygutiak „pervers“ findet.

Ein Mannheimer Witwer, Heinrich Schuhmacher, stand mit zwei kleinen Kindern allein da; seine Frau war depressiv gewesen und hatte sich das Leben genommen. Eine ledige Frau aus der Nachbarschaft war mit einer Familie im gleichen Haus befreundet. Sie kümmerte sich um die zwei verwaisten Kinder. Der Witwer und sie lernten sich näher kennen und lieben. Ihre Verhältnisse waren jedoch verwickelt, was im NS-Staat hohe Bedeutung bekam. 

Ihr Vater war zwar in Frankfurt geboren, aber der Großvater war Österreicher und Offizier aus Lemberg gewesen – und dieses gehörte nach dem Ersten Weltkrieg zu Polen – mit unklaren Verhältnissen, was Staatsangehörigkeit und Ausweispapiere anbetraf. Die Familie Rappaport wurde, wie andere auch, als „Staatenlos“ erklärt. Die mit Heinrich Schuhmacher angestrebte Trauung war daher zunächst nicht möglich, und sie war nach der Machtergreifung der Nazis aussichtslos. 

Mit Schildern um den Hals vom Nazipöbel durch die Straßen getrieben.

Das Paar zog trotzdem zusammen und bekam einen Sohn. Es zog dann aber wieder, sonst der Nazibedrückung gewiss, in getrennte Wohnungen, denn nach der Nazi-Machtergreifung wurden bei gemischten, unverheirateten Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden manche der Beteiligten mit Schildern um den Hals vom Nazipöbel durch die Straßen getrieben, Frauen mit Namensnennung in der Presse an den Pranger gestellt und in der alles beherrschenden Nazipresse schon im Jahre 1933 mit Sterilisation bedroht.

Zusätzlich zu all diesen Bedrückungen erließen die Nazis im September 1935 die berüchtigten Nürnberger Gesetze. In diesen schloss man von der Religion der Vorfahren, vor allem der Großeltern, auf „Rasse“. Der Tatbestand der „Rassenschande“ wurde eingeführt. Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden waren bei Strafe verboten – ebenso intime Beziehungen. Auch sogenannte „Ersatzhandlungen“ – ein sehr dehnbarer Begriff – wurden drakonisch bestraft, häufig im Anschluss an Gefängnis-/Zuchthausstrafe mit KZ-Haft – selbst wenn wegen offensichtlich haltloser Anschuldigungen vor Gericht ein Freispruch nach der Untersuchungshaft erzielt worden war.

Dies vorausgeschickt, stieß ich in Akten der Staatsanwaltschaft zum Thema „Rassenschande“ auf das Schicksal der beiden Genannten. Sie waren, nach einer Denunziation 1938, verhaftet worden. Beide stritten energisch ab, nach Erlass der Nürnberger Gesetze intime Beziehungen gehabt zu haben, selbst wenn sie sich tagsüber besuchten. Erna Rappaport wurde von der Gestapoleitstelle Karlsruhe mit der Auflage aus der Haft entlassen, bis zu einem nahen Datum das Reichsgebiet zu verlassen, andernfalls würde sie wieder in Haft genommen werden. 

Von Heinrich Schuhmacher berichtet die folgende Aktennotiz: „H.S. wurde heute­ nochmals eingehend zu den Beschuldigungen gehört. Er bestreitet hartnäckig, mit der R. seit Verkündung der Rassen­gesetze Geschlechtsverkehr gehabt oder Ersatzhandlungen vorgenommen zu haben. Man könne ihn noch fünf Jahre festhalten, und er werde auch dann keine anderen Angaben machen. Bei S. handelt es sich um einen waschechten, robusten Mannheimer Möbelpacker. Ein Geständnis ist bei ihm nicht zu erwarten.“

„Robuster Mannheimer Möbelpacker. Ein Geständnis ist bei ihm nicht zu erwarten.“

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Die Kinder des Heinrich Schuhmacher aus erster Ehe waren inzwischen 13 und 15 Jahre alt. Das Paar floh nach Frankreich mit dem leiblichen Kind. Sie hatten das Glück, dass Erna R. als Staatenlose nicht das diskriminierende J, welches sie als Jüdin ausgewiesen hätte, in den Pass gestempelt worden war. Dem Paar wurde 1939 in Frankreich in aller Not noch ein Kind geschenkt, eine Tochter. Heinrich S. bekam Arbeit bei Dijon bei einem Bauern. In einem Brief aus dem Jahre 1974 schildert Erna R. das Ende der Harmonie dort:
„… der Krieg kam. Die Dorfbewohner waren so Deutschhasser, dass sie keinen Unterschied kannten. Sie warfen mit Steinen nachts durch die Fenster, dass ich nicht mehr schlief vor Angst, die Kinder würden verletzt. Mitten in der Nacht packten wir unser Bündel und gingen nach Dijon.“

Die Flucht musste unter schlimmsten Voraussetzungen bald weiter ins unbesetzte Frankreich, das sogenannte Vichy-Frankreich, fortgesetzt werden. Erna R. wurde dort ins berüchtigte KZ Gurs eingeliefert, wo sie mit beiden Kindern den Krieg überlebte. Ihr Mann versuchte zunächst, in Vichy-Frankreich Arbeit zu bekommen und seine Frau und Kinder aus dem Lager Gurs herauszubekommen, musste dann aber zu den Partisanen in die Berge fliehen, während sie unter den himmelschreienden Bedingungen in Gurs um den Mann bangte. 

Dann erreichte sie, trotz Krieg und Besatzung, folgender Brief: „Liebe Frau und Kinder! … Ich hatte immer noch Hoffnung, euch zu sehen. Aber in fünf Minuten werde ich erschossen. Mein letzter Wunsch war, euch schreiben zu dürfen. Ich bete zu Gott, dass mit dir und den Kindern nichts passiert – Heinrich.“

Und sie schrieb mir 1974: „So endete eine Liebe, die trotz allem Leid … fest zusammenhielt. Ich war genau 28 Jahre alt, als ich allein mit zwei Kindern auf der Welt stand. Vater und auch meine Schwester mit Kind kamen um.“

Ich kann auch heute nur mit Ergriffenheit an die Schicksale dieser Menschen erinnern, die unter dem Vorwand der „Rassenschande“ mit Schildern um den Hals durch Straßen getrieben wurden, an Leib und Leben bedroht wurden und, wie bei diesem hier geschilderten Schicksal, in Not, Elend, Tod getrieben wurden. 

„Mit dem Schild suggeriert er, er sei mit jenen Menschen gleichzusetzen.“

Daher habe ich hier ein Schicksal aus der Vergessenheit hervorgeholt, damit jeder begreifen kann, was an Ungeheuerlichem in unserer Stadt passiert: In Offenburg gibt es einen Mann, Taras Maygutiak,­ mit Gesinnungsgenossen. Er genießt alle Segnungen eines Rechtsstaates. Und dieser Mann hängt sich ein Schild um den Hals. Mit diesem will er auf sich und sein Anliegen aufmerksam machen. Mit dem Schild suggeriert er, er sei mit jenen Menschen, mit jenen Schicksalen gleichzusetzen. 

Dazu meine Wertung: Das ist eine Verhöhnung, eine Missachtung, das ist pervers. Falls Herr Maygutiak glaubhaft machen will, dass er nicht gewusst hat, seine gleiche Wortwahl also zufällig sei, sollte er sich schleunigst, ebenso öffentlich und eindeutig, von seinem Auftritt distanzieren 

Oberbürgermeister Marco Steffens und dem Gemeinderat, besonders auch der Grünen-Fraktion, die wieder mit der nötigen Deutlichkeit den Trennungsstrich zu solchen Vorgängen und dem Verursacher gezogen haben (vergleiche OT, 15. und 16. Oktober 2019), sei ausdrücklich erneut vor dem Hintergrund eines solchen Schicksals gedankt.

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