»Genau hinschauen ist gut«

Ulrich Marx - »Manche Eltern haben Probleme, das zu akzeptieren. Wir sagen, dass man genauso seelisch erkranken kann wie körperlich«: Jugendpsychiater Martin Teichert.
Herr Teichert, Burnout ist in aller Munde, und viele Menschen – auch Prominente – geben ihre psychischen Probleme offen zu. Braucht’s den Aktionstag heute überhaupt noch?
Martin Teichert: Ja, den braucht’s. Weil es immer noch Leute gibt, die »Du bist ja irre!« oder »Du bist ja gestört!« als Schimpfworte verwenden. Das signalisiert ja Vorbehalte, die viele haben. Wir wollen zeigen, dass seelische Erkrankungen normale Erkrankungen sind. Wenn ich mir ein Bein breche, sieht und versteht das jeder. Wenn aber jemand besonders traurig ist, sich verkriecht, in unüblichem Maße aggressiv ist oder Leute ignoriert und wie Luft behandelt, ist das schwer als Krankheit zu verstehen.
Woran liegt das?
Teichert: Das hängt mit unserem Kulturkreis zusammen. Manche können gar nicht sagen: »Mit geht es schlecht, ich bin depressiv.« Und wenn einer durchhängt, unterstützen ihn zwar die Freunde, aber sobald es zur Belastung wird, hört das nach etwa 14 Tagen auf. Das ist auch bei Kindern so. Wenn einer besonders lange traurig ist, klingeln sie irgendwann nicht mehr.
Stichwort Kinder: Wie kommen denn Eltern damit klar, dass ihr Nachwuchs psychische Probleme hat?
Teichert: Die Eltern wissen häufig nicht, was los ist, und versuchen, das erzieherisch zu verändern. Manche Eltern haben Probleme, das zu akzeptieren und zu uns zu kommen. Wir sind halt die Kinderpsychiater. Die Eltern sagen lieber, sie sind beim Kinderpsychologen. Allein der Name »Psychiater« hat einen schlechten Ruf. Das Fachgebiet ist immer noch tabuisiert.
Was kann man dagegen tun?
Teichert: Wir reden darüber. Wir sagen, dass man genauso seelisch erkranken kann wie körperlich. Wenn die Leute wissen, woran es liegt, können sie es besser verstehen. Sie kriegen ein Rezept, wie sie damit umgehen können. Bei vielen hilft das auch.
Was behandeln Sie denn am meisten?
Teichert: Wir haben sehr häufig Kinder mit Konzentrationsproblemen, mit Depressionen, mit Störungen im Sozialverhalten, mit Essstörungen, mit Sucht, vor allem PC-Sucht, über Haschisch und Marihuana bis hin zu harten Drogen. Selten gibt es auch mal Psychosen. Es ist das gesamte Spektrum von psychischen Erkrankungen im Kinder- und Jugendalter.
Wenn Sie zurückblicken: Was hat sich denn in den vergangenen Jahren in ihrer Tätigkeit verändert?
Teichert: Seit den Ereignissen von Winnenden wird aggressiven Störungen mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Da kommt jemand, der als relativ ruhig und angepasst galt und dann in der Schule aus dem dritten Stock einen Stuhl runtergeworfen hat. Oder einer, der jahrelang andere Kinder sexuell missbraucht hat. Natürlich sind die Lauten, Störenden, Dissozialen eher im Blickpunkt. Das ist häufig auch überzogen, aber: Die Idee, dass man auch mal genau hinschauen muss, ist gut.
Ab welchem Alter sind Therapien überhaupt sinnvoll und erfolgversprechend?
Teichert: Es gibt Leute, die kommen schon mit dem Stillkind und sagen, es schläft nicht. Die junge Mutter, die das Kind ablehnt. Das ist ein Problem der Mutter. Natürlich kann ich nicht mit dem Kind reden. Aber ich kann notfalls der Mutter Hilfe anbieten, eine Beziehung zu dem Kind zu entwickeln. Mit zwei, drei, wenn die Kinder spielen und sprechen können, geht es dann los. Kinder kommen immer früher zu uns, weil die Leute in der Kita sagen: Das Kind kann noch nicht reden, ist aggressiv, hat Ängste – in einem Ausmaß, das sie mit ihrer normalen Pädagogik nicht in den Griff kriegen.
Sind denn die Therapiemöglichkeiten bei jungen Menschen besser?
Teichert: Sehr viel besser. Da hat man meistens eine viel kürzere Therapiedauer. Kinder sind in der Entwicklung, sind bereit und interessiert, sich auf neue Dinge einzulassen. Bei Erwachsenen gibt es gefestigte Verhaltensweisen. Wenn jemand ein halbes Leben Probleme hatte, ist das nicht in ein paar Wochen behoben.
Sind die Fälle denn mehr geworden?
Teichert: Nein. Aber wir sind noch unter dem Versorgungsniveau: Es gibt etwa 80 000 Kinder in der Ortenau und man rechnet damit, dass fünf bis 15 Prozent untersucht werden müssten, also 8000 Kinder – und wir haben pro Jahr circa 1000 Patienten. Es gibt einfach wenig Infrastruktur für psychisch kranke Kinder. Eigentlich müssten viel mehr untersucht und behandelt werden. Es wäre sinnvoll, dass mehr Kinder einmal einen Kinderpsychiater gesehen haben. Es ist wie mit den Kinderärzten, nur gibt es im seelischen Bereich keine Vorsorge. Davon sind wir noch weit entfernt.
HINWEIS: Heute, Mittwoch, findet in der Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -therapie von Martin Teichert und Corinna Middendorf in der Wilhelmstraße 18 in Offenburg von 14.30 bis 17.30 Uhr ein »Nachmittag der offenen Tür« statt.