Jens Rommel: Wie noch heute gegen Nazi-Verbrecher ermittelt wird
Warum hat sich die Aufklärung von nationalsozialistischen Verbrechen über die vergangenen Jahrzehnte so schwierig gestaltet? Das hat Oberstaatsanwalt Jens Rommel in dem Vortrag „Geschichte vor Gericht“ versucht zu erklären. Die Veranstaltung wurde von der Initiative „Zu-Flucht“ organisiert.
Oberstaatsanwalt Jens Rommel versucht als Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen die noch lebenden Täter und Gehilfen der Morde der Nationalsozialisten vor Gericht zu bringen. Was diese Aufgabe so schwierig macht, hat er im Vortrag „Geschichte vor Gericht“ am Donnerstagabend im Familienzentrum Innenstadt im Bürgerpark erläutert. Die Initiative „Zu-Flucht“ hat zu der Veranstaltung eingeladen.
„Wie können wir mit den Massenverbrechen aus der Diktatur und dem Weltkrieg umgehen? Und warum steht noch heute ein Staatsanwalt vor Ihnen und redet darüber?“ – mit diesen Fragen stieg Rommel in das Thema ein.
Eines der großen Probleme bei der Verfolgung der Täter sei dabei bis heute, dass das Strafrecht die Verantwortung des Einzelnen im Blick habe. „Hier haben wir es aber mit einem Verbechen zu tun, das von einem Staat organisiert wurde. Unser juristisches Handwerkszeug greift da nicht“, so Rommel. Das sehe man zum Beispiel bei der Verjährung: Alle Strafbestände waren spätestens 15 Jahre nach Kriegsende verjährt. Nur Mord verjährt nicht.
Darum müssen sich Juristen heute fragen: „Wer ist eigentlich für die Morde verantwortlich? Wer ist Täter, wer Gehilfe, wer hat sich nur moralisch schuldig gemacht?“, so Rommel. „Wofür muss der Einzelne in einem verbrecherischen System einstehen?“
Ab wann ist man Täter?
Dabei sind Täter laut Rommel Personen, die ein Interesse an der Tat haben. Gehilfen sind diejenigen, die nur Befehle befolgt haben. Wobei sich auch hier die Frage stelle, ab wann ein Gehilfe für Mord ins Gefängnis muss: Hat zum Beispiel bereits der Koch, der die Truppen versorgt hat, eine Mitschuld? Wie viel hat dieser gewusst?
In einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 20. Februar 1969 wurde festgelegt, dass nicht jeder, der in den Konzentrationslagern Dienst tat, auch mit für die Morde verantwortlich war. „Die Justiz hätte damals die Menge an Tätern möglicherweise gar nicht bearbeiten können“, sagte Rommel.
Zudem seien gerade in den 50er und 60er Jahren viele Personen bei der Polizei und den Gerichten angestellt gewesen, die bereits zu NS-Zeiten Karriere gemacht haben – ein allzu großes Interesse an der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrecher habe es auch deshalb damals nicht mehr gegeben. „Die Aufklärung ist an vielen Stellen juristisch nicht überzeugend, das macht die ganze Sache auch so unbefriedigend“, so Rommel.
Erst mit einem Urteil des BGH vom 20. September 2016 im Fall Oskar Gröning hat sich an der Rechtsprechung etwas geändert. Gröning wurde verurteilt, weil er sich um die Wertsachen der Deportierten gekümmert hat. Er wurde als ein Rädchen in der Tötungsmaschinerie mit in die Verantwortung gezogen.
Nachträglich bilanziert Rommel die Aufarbeitungsarbeit der BRD: „Zu spät, zu milde, zu wenig.“ In der Zentralen Stelle werde man noch weiter ermitteln. Aber: „Es ist klar, dass in ein paar Jahren kein Täter mehr am Leben sein wird.“
Die Zentrale Stelle
Die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg führt seit 1958 Vorermittlungen zu nationalsozialistischen Verbrechen und versucht, noch lebende Beschuldigte ausfindig zu machen, die sich an den Morden der Nationalsozialisten beteiligt haben. Die acht angestellten Staatsanwälte sichten Material über nationalsozialistische Verbrechen im In- und Ausland. Erhärtet sich der Verdacht gegen einen möglichen Täter, leitet die Zentrale Stelle den Fall an die vor Ort zuständige Staatsanwaltschaft weiter.