Theaterspieler halten Ohlsbach den Spiegel vor
Immer dann, wenn Dinge ihre gewohnten Kategorisierungen verlassen, fällt zunächst die Orientierung schwer. So könnte man die „Aufführung“ des Kollektivs „Mensch Theater!“ in Kooperation mit dem Theater Baden Alsace am Samstag im mit rund 50 Besuchern gut gefüllten Bürgersaal Ohlsbach „Theater“ nennen, was nur die halbe Wahrheit wäre, weil dieses rund zweistündige „Theaterstück“ mit integrierter Publikumsbeteiligung im Kern doch noch etwas ganz anderes war: Coaching von Kommunikationstrainern mit Theaterszenen.
Das gelang auf Grundlage gründlichen Rollenstudiums: Dazu waren Naemi Thoma und Tobias Gerstner des Theaterkollektivs sowie die Dramaturgin, Autorin und Regisseurin Karen Schultze des Theaters Baal eine Woche lang zu Gast in Ohlsbach. Schnupperten hier und da hinein, besuchten die Gemeindeverwaltung, die Bäckerei, die nicht vorhandene Apotheke, fanden auch keinen Ort für Jugendliche, dafür einen Mineralbrunnen, der geschlossen war, sammelten weitere Eindrücke vom realen Leben und dem Mit-, Neben- oder Gegeneinander.
Humor statt Provokation
Sie sprachen mit Einwohnerinnen und Einwohnern, hörten den Meinungen, Wünschen und Beschwerden zu und verdichteten all ihre Eindrücke in kurze, improvisierte Spielszenen. Und genau diese setzten sie dem Publikum als Spiegel vor, inklusive dem direkt vor der Bühne interessiert sitzenden Bürgermeister Bernd Bruder. Was in Konfrontation und Provokation hätte münden können, erwies sich entspanntermaßen als fast heiteres Selbsterkennen mit Ohlsbacher Fähigkeit zum Schmunzeln über sich selbst. Mit viel Spielfreude und Witz pointierten die drei Akteure ihre Beobachtungen. Unter anderem die empfundene Erlebnisleere, gar Langeweile, das fast zugehörigkeitsentscheidende Zentrieren auf Vereine wie Fasend oder Feuerwehr, die Sentimentalität über längst historisches Wettbewerbs-Silber 1977 und Gold 1979 für ihr schönes Dorf, oder das spannungsreiche Für und Wider, scheinbar „alles zu haben“, außer Schulden.
Während das Verhältnis zu zugezogenen Neubewohnern im Rollenspiel noch komödiantisch erheiternd war, verlief sich die Ursachenforschung in der anschließenden Erörterung im Unverbindlichen: Manche orteten ein Desinteresse auf der einen Seite, andere auf der anderen, doch – von einem kurzen Raunen begleitet – keinesfalls aber von Seiten der Ohlsbacher. Aber „Ohlsbach könne“, so zwei Stimmen, „Neubürger vielleicht etwas mehr begrüßen?“ Was Ohlsbach, so Bürgermeister Bruder, bereits mit seinen offiziellen Empfängen tue. Also doch alles gut? Zeit, dies auszudiskutieren, blieb dafür nicht – Ziel der Gruppe war ja auch nur, Denkanregungen zu geben.
Sensibilität spürbar
So hält sich das sich selbst so bezeichnende „Theaterkollektiv für gesellschaftlich angewandtes Theater“ konsequent an seinen pädagogischen Selbstauftrag, frei nach der mittelalterlichen Hof-Regel, dass derjenige, der einem anderen einen Spiegel vorhält, stets darauf achten solle, dass der darin Sehende gut aussieht oder zumindest darüber lachen kann. Entsprechend spürbar war die Sensibilität, mit der Spielleiter Tobias Gerstner in seiner zusätzlichen Multirolle als Pädagoge, Moderator, Mediator und Coach das Publikum durch die Diskussionen führte. Fast noch geschickter, feinsinniger und professioneller als sein Schauspiel gelang es ihm, es mitzunehmen und zur Selbstbetrachtung zu motivieren.
Dabei seine situative und thematische Duldungsbereitschaft auszuloten, sich in kleinsten Schritten voranzutasten in dessen Befindlichkeiten, dann es zu erinnern an die Dankbarkeit über das Gute. Niemals überschritt er die Grenze, die Sezier-Instrumente der Gruppen-Beobachtungen zu tief in die angesichts weltweiter Krisen und Zukunftsängste ohnehin nur eher harmlos erscheindenden Wunden des Ohlsbacher Daseins zu legen. Die Fragen der Veranstaltungs-Ankündigung bleiben: Wohin geht die Entwicklung in Ohlsbach? Wie sieht das Dorf in der Zukunft aus? Aber das müssen die Ohlsbacher wissen.