Wie die Spinnerei die Züge rollen ließ
Die 1857 gegründete und 2008 stillgelegte Spinnerei und Weberei war über Jahrzehnte der größte Arbeitgeber in der Stadt. In seinem Buch »D’ unter Fabrik« zeichnet der Historiker Volker Ilgen die Geschichte des Unternehmens nach. In einer siebenteiligen Serie veröffentlichen wir Auszüge daraus. Heute: der Gleisanschluss.
Direktor Bauer beschäftigte sich damals vor allem mit einer logistischen Frage: Bereits im Juni 1908, nachdem der Güterbahnhof rund 500 Meter nach Norden verlegt worden war, hatte Hotelier und Stadtrat Carl Schimpf den Vorschlag unterbreitet, ein Industriegleis abzweigend von der Reichsbahn einzurichten, da ihm die Frachtpreise der Fuhrleute mit ihren pferdebespannten Lastwagen für die Transporte zu den einzelnen Betrieben und Geschäften zu hoch erschienen.
Weitsichtige Argumente
»Das Unternehmen«, so führte Schimpf in seinem Exposé aus, »wäre jedoch nur rentabel, wenn sich die Spinnerei & Weberei Offenburg – die 2/3 mehr Waggons erhält als die städt. Anstalten – beteiligen würde«. Die Linie sollte bis zur »landwirtschaftlichen Halle eventl. zu Walter Clauß« reichen. Was an seinem Gutachten besonders auffällt, sind der Weitblick und die sehr modern wirkenden Argumente, mit denen der Gastronom die Ratskollegen zu überzeugen suchte, das Bahngleis auf eigene Kosten zu bauen. Nur so ließe sich gewährleisten, dass »in 25 – 30 Jahren die Stadt ein lastenfreies Industriegelände« hätte, »worauf sie ohne Gebühren die Kohlen in die städt. Werke befördern könnte«. Außerdem käme es zu einer »Entlastung unserer Straßen um mindestens 3000 Zweispänner-Fuhren, von denen jede 1000 Ztr. wiegt und die Straßen sehr abnützt«, und zuguterletzt könne die Stadt auf eine »Vermehrung des Steuerkapitals« hoffen, weil sich »mit der Zeit neue Geschäfte in der Nähe des Industriegeleises ansiedeln könnten«.
Schimpfs Projekt stieß auf Wohlwollen, und man schrieb es aus, woraufhin sich verschiedene Bahngesellschaften meldeten, um die Idee in die Tat umzusetzen. So bewarb sich die in Straßburg ansässige »Gesellschaft für Feld- und Kleinbahnen-Bedarf vormals Orenstein & Koppel«. In ihrer Planaufnahme berechnete sie eine Gesamtlänge für das Gleis von rund 1880 Meter, »nach Abzug der erforderlichen Weichen 1780 m. Dazu kämen das Nebengleis für das Gaswerk mit 50 m, das Nebengleis für das Schlachthaus mit 60 m, das Nebengleis für die Spinnerei & Weberei mit 50 m. Ausserdem«, so die Gesellschaft, seien »4 Weichen sowie eine Gleiskreuzung erforderlich«.
In der Folge verzögerte sich jedoch die Ausführung, da der Bau des neuen Gaswerks eine andere Trassenführung des Industriegleises erforderte und auch die Kostenverteilung zwischen Stadt und Firmen Streitigkeiten verursachte.
Schließlich, im September 1913, hielt das Protokoll einer Stadtratssitzung fest, dass »die Angelegenheit vorerst nicht weiterverfolgt werden« sollte, unter anderem, weil durch den nötigen Einbau von Drehscheiben zum Wenden der Lok und der Waggons auf den Grundstücken der Industriebetriebe, die allein jeweils 48 000 Mark verschlangen, der Finanzierungsspielraum mehrerer Betriebe schlichtweg gesprengt würde. Das auf 100 000 Mark lautende Beihilfeangebot der Spinnerei und Weberei, welches Direktor Bauer in dieser Sitzung offerierte, lief somit zunächst ins Leere.
Kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs nahm sich der Stadtrat erneut der Sache an, indem er einen Freiburger Ingenieur beauftragte, die Möglichkeiten durchzuspielen, wenn »das Gleis der Nebenbahn Offenburg – Altenheim – Straßburg, das z. Zt. auf der Hauptstraße liegt, außerhalb der Stadt verlegt« und, von diesem abzweigend »ein Gleisanschluß mit dem staatlichen Güterbahnhof und den städt. Werken (Gas- und Elektrizitätswerk) sowie dem städt. Schlachthof erreicht werden« würde.
9000 Tonnen Fracht
Zur Erstellung einer Projektskizze kam es durch Kriegsende und Revolution nicht mehr, doch schon im März 1919 legte das nun hinsichtlich der Planung federführende Tiefbauamt der Stadt eine detaillierte Kostenrechnung vor, wobei die Trasse des Industriegleises an den städtischen Betrieben vorbei nur bis zum Bauhof geführt werden sollte. Immerhin wurde auch die Spinnerei und Weberei erneut in die Planungen einbezogen, als die Stadtverwaltung bei Direktor Bauer anfragte, ob sich seine Firma »an der Gleisanlage beteiligen« wolle, was natürlich auf positive Resonanz stieß.
In einer Denkschrift vom Juni 1920 berechnete der Chef der städtischen Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke, dass die Spinnerei und Weberei über diese Güterbahn mit durchschnittlich 9000 Tonnen den höchsten Jahresumschlag erzielen würde – die kunstglasverarbeitende Firma Schell & Vittali erreichte 1000, das Gaswerk rund 6500 Tonnen.
Lokomotive angeschafft
Der Aufwand für die Herstellung des Industriegleises wurde im Februar 1920 auf rund 345 000 Mark beziffert, die Schwellen hatte man klugerweise der Heeresverwaltung noch gegen Kriegsende für kleines Geld abgekauft. Die Bauarbeiten selbst, so Oberbürgermeister Fritz Hermann am 26. Januar 1921, sollten »als Notstandsarbeiten ausgeführt« werden, »um für die hier ansässigen Erwerbslosen Arbeitsgelegenheit zu schaffen«.
Als wichtigste rollende Investition schaffte die Stadt 1920 eine Benzol-Lokomotive von der Motorenfabrik Oberursel A.G. an, nachdem sich Verhandlungen mit der Reichsbahn über das Zurverfügungstellen einer Lokomotive beziehungesweise eine Anmietung zerschlagen hatten. Den Kauf hatte die Spinnerei und Weberei vorschüsslich mit 100 000 Mark ermöglicht. Als Lokomotivführer konnte mit August Lurk ein Einheimischer verpflichtet werden, der Maschinist war 1893 in Bohlsbach geboren.
Am 17. Januar 1922 schließlich meldete das Stadtbauamt, dass die Gleisanlage zum Ende des vorangegangenen Jahres hin fertiggestellt worden sei, die Kosten allerdings beliefen sich auf stattliche 1,3 Millionen Mark. Im Vergleich zum kalkulierten Aufwand von 345 000 Mark aus dem Januar 1921 bedeutete dies eine wahre Kostenexplosion. Die enorme Steigerung lag allerdings am bedrohlichen Währungsverfall der Mark, der schon während des Kriegs eingesetzt hatte.
NÄCHSTE FOLGE: »Die Spinnerei und Hitler« – lesen Sie am Mittwoch, 27. Juni, wie sich die Spinnerei mit den neuen Machthabern arrangierte.
HINWEIS: Volker Ilgen, »D’ unter Fabrik« – Geschichte der Spinnerei und Weberei, 128 Seiten, 12,90 Euro, ist im örtlichen Buchhandel und im Museumsshop erhältlich.