Darum wirbt Schäuble trotz multipler Krisen für Zuversicht
Beim kommunalpolitischen Neujahrsempfang der Mittelbadischen Presse sprach Gastredner Wolfgang Schäuble über die Chancen angesichts der aktuellen multiplen Krisen. Er appellierte an die Verantwortung des Einzelnen in der Gesellschaft.
Ein weiteres Krisenjahr liegt hinter uns. Doch für Wolfgang Schäuble, seit 50 Jahren Mitglied des Deutschen Bundestags, stand beim Neujahrsempfang der Mittelbadischen Presse fest: „Wir haben Grund zur Zuversicht.“ Eine offene demokratische Gesellschaft mache zwar Fehler, sei aber auch in der Lage, diese zu korrigieren. Als Gastredner appellierte der CDU-Bundestagsabgeordnete am Mittwoch an das Verantwortungsgefühl jedes Einzelnen. „Wir müssen dafür sorgen, dass Demokratien wie die unsere stabil und effizient bleiben.“
Vor rund 85 Gästen aus der Kommunalpolitik sprach Schäuble über die prekäre weltpolitische Lage. „Wir haben es mit multiplen Krisen zu tun, die sich gegenseitig beeinflussen“, sagte er. Putin kämpfe nicht etwa nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen unsere Vorstellung eines freien, geeinten Europas. Mit der Aussage, die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts sei der Zusammenbruch der Sowjetunion gewesen, habe Putin zwar bereits vor Jahren angekündigt, was er nun mit Gewalt umzusetzen versuche. „Doch wir haben ihn nicht ernstgenommen“, sagte Schäuble.
Putin hat Nuklearwaffen enttabuisiert
Putin enttabuisiere bewusst Nuklearwaffen und setze auf die zunehmende Ermüdung Europas bei der Unterstützung der Ukraine. Wichtiger denn je sei es jetzt, deutsche Alleingänge zu beenden. Fragen der inneren und äußeren Sicherheit seien auf europäischer Ebene am Besten aufgehoben. „Doch in Deutschland neigen wir dazu, alles besser zu wissen, und uns moralisch überlegen zu fühlen“, kritisierte Schäuble. Als Beispiel zog er mit einem Augenzwinkern das schlechte Abschneiden der deutschen Nationalmannschaft bei der WM in Katar heran.
Auch migrationspolitische Probleme könnten auf europäischer Ebene am Besten gelöst werden, zeigte sich Schäuble überzeugt. Längst sei zwar bekannt, wie wichtig Einwanderung für den europäischen Arbeitsmarkt sei, wenn man wettbewerbsfähig bleiben wolle. Jeder solle die Chance bekommen, sich durch Arbeit ein gutes Leben aufzubauen. Doch gleichzeitig sprach er sich für eine europaweit einheitliche Regelung von Sozialleistungen aus. Es müsse sichergestellt werden, dass Migration nicht überwiegend dorthin stattfinde, wo die Sozialleistungen am höchsten seien.
Für mehr Föderalismus
Auch zu viel politische Einmischung in die Wirtschaft kritisierte Schäuble scharf. „Man wird Probleme nicht lösen können, indem man weiterhin Schulden macht und die Inflation in Kauf nimmt“, zeigte sich der ehemalige Finanzminister überzeugt. Zu viel staatliche Einmischung schwäche die Wirtschaft. Und letztlich mache sich das in steigenden Preisen bemerkbar und gehe zu Lasten der Bevölkerung. Außerdem müssten die Zuständigkeiten unterschiedlicher Ebenen des Gemeinwesens dringend neu festgelegt werden, so Schäuble. Er bezeichnete sich selbst als „Fan des Föderalismus“. Viele Probleme seien auf kommunaler Ebene gut zu regeln.
Dass die Demokratie nicht mehr so stabil sei, wie sie früher war, zeige sich längst auch auf kommunaler Ebene. Schließlich sei es immer schwieriger, Bürgermeister-Kandidaten zu bekommen. Auch die Wahlbeteiligung nehme ab. „Wir sollten also überlegen, was wir vom Staat erwarten, und was von der Gesellschaft, zu der auch die Wirtschaft zählt“, so Schäuble.
Die Bedeutung der Presse
Er wies darauf hin, dass Krisen immer auch die Chance bieten, Dinge zu verändern. Entscheidend sei der Leidensdruck. Längst sei es an der Zeit, den Föderalismus und das Wahlrecht zu reformieren. Die kommunale Selbstverwaltung bezeichnete er als Grundlage für eine funktionierende Demokratie. Schließlich seien das Interesse der Menschen am örtlichen Geschehen und ihr ehrenamtliches Engagement ungebrochen groß. „In der kleinsten erfahrbaren Einheit werden die besten Kräfte der Menschen hervorgerufen“, zeigte sich Schäuble überzeugt und wies auf die große Bedeutung einer starken lokalen Presse hin.
In Anspielung auf Schäubles auch auf internationalem Parkett oft badisch gefärbtes Deutsch, überreichte der Redaktionsleiter der Mittelbadischen Presse, Wolfgang Kollmer, dem prominenten Gast nach dessen Rede die neueste Ausgabe des Alemannischen Wörterbuchs. „Frei nach dem Motto: Alemannisch isch nie over“, so Kollmer.
Er kündigte für das neue Jahr Entwicklungen im Verlag an. Die Pandemie habe dazu geführt, dass die Nutzerzahlen auf der Nachrichtenplattform Baden-Online gestiegen seien und viele neue E-Paper-Abos abgeschlossen wurden - jedoch nicht zu Lasten der Printauflage. Auffällig außerdem: In den Krisenjahren habe es eine hohe Interaktion von Lesern mit den Redakteuren gegeben. Der Verlag setze im neuen Jahr noch stärker auf gut recherchierte, hintergründige Lokal- und Regionalthemen sowie parallel dazu auf starke dezentralen Lokalberichterstattung.
Mehr interaktive Formate
Außerdem werde man auch künftig interaktive Formate wie das „Ortenau-Forum“ veranstalten, bei dem auch Bürger an öffentlichen Debatten beteiligt werden.
Einen filmischen Rückblick auf das Jahr 2022 in der Ortenau bot die fünfminütige Zusammenfassung der vielen hundert Videos, die das Team von Mittelbadische Presse TV im letzten Jahr produziert hat.
Kleinkunst aus dem Badischen ist fester Bestandteil des Neujahrsempfangs. Am Mittwochabend sorgten die Kehler Gerd Birsner und Oli Reister als Duo „GO“ - Gerd und Oli - für beste musikalische Unterhaltung.