Leiter der Intensivstation: „Das macht furchtbar nachdenklich“
Nach 21 Monaten Pandemie sind die Pflegekräfte am Ende, sagt Rainer Göhringer. Der Leiter der Intensivstation in Offenburg empfindet angesichts ungeimpfter Patienten Trauer und Wut.
„In der ersten und zweiten Pandemiewelle war viel Trauer dabei, der Jüngste, der mir unter den Händen weggestorben ist, war 37 Jahre alt und hatte vier kleine Kinder zuhause“, sagt Rainer Göhringer. Die Trauer ist bei dem Leiter der Intensivstation des Ortenau-Klinikums in Offenburg inzwischen der Fassungslosigkeit und Wut gewichen. Wut darüber, dass der Patient, der gerade um sein Leben ringt, „die Chance gehabt hätte, etwas dagegen zu tun und sie nicht genutzt hat“. Denn mit den Impfstoffen gebe es inzwischen ein „probates Mittel, um schwere Krankheitsverläufe zu verhindern“, schildert Göhringer seine Erfahrung.
Seit 41 Jahren arbeitet Rainer Göhringer. „Mir war schon als Schüler klar, dass ich in die Pflege gehen möchte“, sagt er und fügt hinzu: „Wir lieben unseren Job, aber nicht die Umstände, die er derzeit mit sich bringt.“ Die Pandemie habe die Arbeit in der Pflege stark verändert. Das fange mit der Schutzkleidung an. „Wir sagen nur, wir ziehen unsere gelben Säcke an.“ Das Material der Schutzkittel sei luftundurchlässig. „Man schwitzt ungemein darin.“ Hinzu kommen spezielle Atemschutzmasken, Visiere und doppelte Handschuhe. Maximal drei Stunden könne man so ausgestattet isoliert auf der Corona-Intensivstation arbeiten.
Emotionale Belastung
Dabei sind die äußeren Rahmenbedingungen noch vernachlässigbar gegenüber der emotionalen Belastung, die die Behandlung schwer erkrankter Corona-Patienten mit sich bringe. „Wir hatten letztes Jahr leider vermehrt Patienten aus Pflegeheimen, sehr betagte Patienten, bei denen wir viele Kämpfe verloren haben.“ In diesem Jahr seien es vermehrt Ungeimpfte auf den Intensivstationen. „Das fängt mit 30 an und hört bei 80 Jahren auf.“ Der Großteil der Patienten sei ungeimpft. „Das macht furchtbar nachdenklich“, meint Göhringer. Bei der ein oder anderen Verlautbarung von Coronaleugnern oder Impfgegnern würden sich ihm die Nackenhaare aufstellen. „Ich würde gerne einmal die Türen der Intensivstationen öffnen und zeigen, wie es hier ist.“ Ohne Zahlen nennen zu dürfen, sei die Station „fast ausgelastet“.
Mit einem Betreuungsschlüssel von nahezu eins zu eins würden im Intensiv-Covid-Bereich am Ebertplatz meist zwei bis drei Patienten versorgt. „Die Fürsorge geht sehr weit über das normale Maß hinaus. Man muss minütlich mit schweren Verschlechterungen rechnen.“ Wenn die Patienten auf die Intensivstation kämen, würden sie bereits um Luft ringen. „Unser leitender Oberarzt geht zu den Patienten und erklärt mit ruhigen Worten, was in den nächsten Stunden passieren könnte und versucht rauszubekommen, ob die Patienten diese Situation wollen oder nicht und überlässt ihnen die Entscheidung.“ Die Entscheidung, das ist die Frage nach einer im schlimmsten Fall invasiven Beatmung nach vorheriger Narkose. „Es gibt Menschen, die das ablehnen, mit der Konsequenz, dass sie versterben können“, so der Intensivpfleger. Zwischen 14 und 16 Stunden täglich – ob wach oder im künstlichen Koma – sollten die Corona-Patienten in Bauchlage verbringen, da die Lunge so besser durchlüftet werde.
„Den Schuss nicht gehört“
Oft sind es viele Tage in denen die Erkrankten auf der Intensivstation um Leben und Tod ringen. Rainer Göhringer erinnert sich an eine Frau aus Mulhouse und einen Schweizer – „einen drahtigen Radfahrer“ – die jeweils rund 40 Tage auf der Intensivstation verbrachten, bevor sie in eine Rehaklinik verlegt werden konnten. Mitunter würden es die Patienten inzwischen bereuen, dass sie sich nicht haben impfen lassen. Das erste, was eine Frau gemacht habe, nachdem es ihr wieder besser ging, war, dass sie ihren Freunden geschrieben habe, die müssten sich unbedingt impfen lassen, sie habe gedacht, sie stirbt, schildert Göhringer ein Erlebnis. Menschen, die nach einem coronabedingten Aufenthalt auf der Intensivstation noch immer das Virus und die Sinnhaftigkeit einer Impfung leugneten haben laut Göhringer „den Schuss leider nicht gehört oder sie hatten doch keinen so schweren Verlauf“.
Am Ende der Kräfte
Frustriert sei er deshalb nicht, betont der Intensivpfleger. Aber einige Kollegen würden mittlerweile davon sprechen, dass sie keine Kraft mehr hätten und nach 21 Monaten Pandemie am Ende seien. Die Fluktuationsrate in den Intensivstationen des Ortenau-Klinikums sei dennoch im Vergleich mit anderen Kliniken noch niedrig. „Es gibt andere, wo zehn, zwölf Mitarbeiter in der Pandemie auf einen Schlag gekündigt haben.“
Rainer Göhringer warnt davor, den Pflegekräften nicht genug Gehör zu schenken. „Unsere Stimme verdient es, gehört zu werden.“ In den nächsten Jahren würden viele erfahrene Kollegen in Rente gehen. „Es ist wichtig, junge Kräfte zu bekommen, sonst wird die Pflege kollabieren.“