Körperverständnis entwickeln: Kinder früh aufklären
Neben der Beratung von Missbrauchsopfern kümmert sich der Hilfsverein „Aufschrei“, für den die Leser helfen“-Aktion der Mittelbadischen Presse in diesem Jahr Spenden sammelt, um die Vorbeugung. Diese soll verstärkt ausgebaut werden. „Man sollte Menschen, insbesondere Kinder, unbedingt stärken“, findet Sexualpädagogin Carolin Heuwerth. Mit Gesprächen, Information und Aufklärung über sexuelle Gewalt und zur sexuellen Bildung sei dies möglich.
„Kinder und auch Erwachsene müssen im Kontext sexueller Gewalt oft erstmal lernen, dass das, was mir angetan wird und mir Bauchschmerzen macht, Unrecht und gegebenenfalls strafbar ist“, sagt Heuwerth und nennt Beispiele: „Dies gilt auch im Kontext Arbeitsplatz, wo manche Azubis erst einmal lernen müssen, dass sie Rechte haben, dass diese und jene Berührung oder ein gut gemeinter Spruch der Vorgesetzten, mit dem sie sich schlecht fühlen, nicht richtig ist. Oder, dass Patientinnen und Patienten sie nicht einfach am Po berühren dürfen, und vieles mehr.“
Nicht verniedlichen
Bereits mit Kindern sollte über Pornografie gesprochen werden. „Heutzutage kommen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit damit in Berührung und können das Gesehene alleine nicht einordnen“, spricht die Beraterin vom Fachteam bei Aufschrei aus Erfahrung. Es müsse offen und altersangemessen über Sexualität, Nähe, Körper, Zärtlichkeiten gesprochen werden, zählt sie auf. Kinder sollten Sprache für Sexualität finden und ihre Geschlechtsorgane benennen können, „und zwar eindeutig und nicht verniedlichend oder mystifizierend. Sie sollten ihren eigenen Körper kennen und einen Körperverstand entwickeln.“
Bedeutend ist dabei die Arbeit mit Fachkräften und Multiplikatoren und den Eltern. „Es gibt keinen 100-prozentigen Schutz, aber Prävention und die Beschäftigung mit diesen Themen sind es immer wert.“ Und man könne hinterher helfen. „Personen, denen man sich anvertrauen kann und die einem glauben, sind dabei ganz wichtig“, so Heuwerth.
Kinder müssten spüren, dass sie genauso wichtig sind wie Erwachsene und auch Erwachsenen gegenüber „Nein“ sagen dürfen. „Sie müssen erfahren, dass ihr Nein auch in anderen Kontexten gehört und akzeptiert wird, dass wir anderen zuliebe keine Zärtlichkeiten erdulden müssen“. Sie sollten erfahren, dass sie mitbestimmen dürfen. Prävention fängt im Alltag an. So nennt die Sexualpädagogin beispielsweise das Begrüßungsküsschen für die Großeltern, das der Enkel gerade nicht geben möchte und die Großeltern trotzdem lieb hat.
„Eine wichtige Botschaft ist ebenso, dass meine Gefühle richtig und wichtig sind. Wenn ich traurig bin, darf ich traurig sein. Wenn ich wütend bin, bin ich wütend. Egal ob Junge oder Mädchen.“ Gut gemeinte Sprüche wie „ach komm, stell dich nicht so an“ würde den Kindern ihr eigenes Gefühl absprechen und die Botschaft vermitteln, dass ihr Gefühl „falsch“ sei. „Wir als Erwachsene sind Vorbilder, auch, wenn es darum geht, Grenzen aufzuzeigen. Wenn das Kind in seiner kindlichen Neugier die Geschlechtsteile der Eltern anfassen will, darf auch hier eine persönliche Grenze gezogen werden.
Die Präventionsprojekte von „Aufschrei“ richten sich an Kinder und Jugendliche in verschiedenen Institutionen wie Schulen, Kitas, der Jugendhilfe und Vereinen. Sie lassen sich gut in die gültigen Lehrpläne einbauen. „Sexueller Missbrauch gefährdet die Entwicklung von Mädchen und Jungen. Die Verantwortung für ihren Schutz tragen jedoch die Erwachsenen“. Deshalb richten sich die Präventions- und Fortbildungsangebote auch an sie (siehe Stichwort). Wie wichtig Prävention ist, macht Carolin Heuwerth deutlich: „Aufgeklärte Kinder sind besser geschützt. Dass ich über meinen Körper, Gefühle, Berührungen, Geheimnisse und Gewalt Bescheid weiß und sprechen kann, stärkt ebenso.“
Wo ist Hilfe?
Erziehung sollte zudem darin bestärken, dass Kinder sich bei vermeintlichen Regelbrüchen anvertrauen und die Angst vor Strafe nicht handlungsunfähig macht. Sie sollten wissen, bei welchen Erwachsenen – auch außerhalb der engen Familie – sie sich Hilfe holen können. „Sexualität und Gewalt können im Einzelnen sprachlos machen und beschämen, miteinander gemischt nehmen sie erst recht die Sprache. Umso wichtiger ist es, von Anfang an zu enttabuisieren“, betont Carolin Heuwerth.
Das bietet der "Aufschrei" an
Starke Kinder Kiste für Kitas und Grundschule;
Ich bin stark - Für Schulklassen und Gruppen ab 8 Jahren. Themen: Gefühle, Berührungen, Geheimnisse, Nein sagen, Hilfe holen. Dauer: 4 Einheiten à 1,5 Stunden;
Herzklopfen: zu den Themen Liebe, Beziehung ab Klasse 8;
Thema Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, beispielsweise an Berufsschulen;
Ebenso können individuelle Projekte mit diversen Themen gestaltet werden, wie Sexualität und sexuelle Gewalt im digitalen Raum, Beziehungen, Geschlechterrollen, Pornografie oder Nähe und Distanz.