Ortenau-Reportage: Letzter Halt St.-Ursula-Heim
Ab heute veröffentlichen wir Beiträge zum Thema "Wendepunkte", die im Rahmen des Volontärswettberwebs 2015 der Mittelbadischen Presse eingereicht worden sind. Heute erscheint die Siegerreportage von Marc Mudrak.
Er war am Ende. Seelisch und körperlich kaputt vom jahrelangen Leben auf der Straße, in Bauwagen und Abbruchhäusern. Eine Existenz, zerrieben zwischen Alkohol, Enttäuschungen und Unsicherheit. Tag für Tag quälten ihn die mal abschätzigen, mal mitleidigen Blicke der anderen. Die Blicke derer, die ein Dach überm Kopf haben, Arbeit und schöne Klamotten. Und die geliebt werden. All das kannte er lange nicht. Manches vielleicht noch nie.
Es war im Frühjahr 2013, als Robert, schwer krank, in ein Zimmer des St.-Ursula-Heims zog, Offenburgs wichtigster Anlaufstelle für Wohnungslose. Seither hat sich einiges getan im Leben des 58-Jährigen. Er hat mit seinem Schicksal gerungen, so wie alle 44 Bewohner des nüchternen Funktionsbaus in der Vogesenstraße. Für sie ist das St.-Ursula-Heim der letzte Halt: Endpunkt oder Wende in einem aufreibenden Leben.
Nun lehnt Robert lässig am Treppengeländer vor der Eingangstür des Heims und zieht an seiner selbstgedrehten Zigarette. Es geht ihm gut. Er lacht. Der 58-Jährige ist ein Hüne mit Zottelbart und einer Haarmähne, die unter der verschwitzten Mütze herausquillt. Die Hände sind Pranken, das Gesicht ist fleischig. Hellblaue Augen fixieren den Besucher, als er die Hand zur Begrüßung ausstreckt. »Hier zu landen war das Beste, was mir passieren konnte«, sagt er.
Im Foyer und in den Fluren des Heims riecht es nach Putzmittel. Aus dem Keller dringt der Duft frischer Wäsche. Welch ein Kontrast zum elenden Leben auf der Straße, das die Bewohner hinter sich haben. Bärtige, zerfurchte Gesichter blicken aus den Ecken in der Eingangshalle. Pritschen stehen auf den Gängen für diejenigen, die nachts um Aufnahme gebeten haben. Zu sehen sind vor allem die Älteren, meistens Männer – Junge und Frauen, deren Zahl im St.-Ursula-Heim steigt, scheinen sich zurückzuziehen. Im Speiseraum sitzen die Bewohner um die Holztische, manche in Gruppen, einige allein. Viele kauen mit gesenktem Kopf, blicken auf den Teller, bleiben stumm.
Anders Robert. Er lässt sich auf einen Stuhl fallen und holt Luft. Er will erzählen, wie es kam, dass er auf der Straße landete. Und wie er noch mal die Kurve kriegte. Dafür muss er lange zurückdenken, an seine Kindheit. Da hat das Elend angefangen. Geboren wurde er in Ingolstadt. »Meine Mutter hat gesoffen und mich verprügelt. Sie war völlig unberechenbar«, erzählt er im Dialekt seiner bayerischen Heimat. »Mein Vater war meistens beim Arbeiten in München.« Robert war auf sich allein gestellt. Dennoch schien sich sein Leben einzurenken. Er machte eine Metzgerlehre, arbeitete im Straßenbau. In Mannheim heuerte er bei einer Straßenbaufirma als Assistent der Geschäftsführung an. Mit Anfang 50 hatte Robert ein festes Einkommen, eine Wohnung, einen Firmenwagen. Freunde aus dem Umfeld des Jobs. Und doch zeigten sich Risse in der mühsam aufgebauten heilen Welt.
Der Absturz kam im Jahr 2009. Das Unternehmen, für das Robert arbeitete, flog wegen Bilanzfälschung auf und ging in Konkurs. Der damals 52-Jährige verlor fast über Nacht seinen Job, die Firmenwohnung und das Fahrzeug. Seine Freunde verließen ihn. Der Kontakt zur Familie brach ab. Außerdem war Robert krank. »Seit 2007 wusste ich, dass ich zu viel trinke«, erinnert er sich. Er war Alkoholiker – und stand plötzlich allein auf der Straße.
Robert entschloss sich zur Flucht. Weg aus dem alten Leben zwischen Alkoholflaschen und falschen Freunden. »Ich wollte mir einen Traum erfüllen und in Frankreich die Loire entlangwandern«, erzählt er. Robert packte seinen Rucksack und lief los. Er folgte dem Strom ein Jahr lang, zu Fuß, als Obdachloser. Bei Regen und bei Sonnenschein. Als die Blumen blühten und als die Blätter fielen. »Ich fühlte mich glücklich und frei«, berichtet er, und ein Lächeln huscht über sein Gesicht. »Der Weg hat mich vom Alkohol befreit.« Er habe einen kalten Selbstentzug vorgenommen. Um Geld zu verdienen, arbeitete er für Bauern. »Geschlafen habe ich unter freiem Himmel oder in leerstehenden Häusern.«
Doch Roberts Leidensweg ging weiter. Als er nach Deutschland zurückkehrte, versuchte er, sich ein neues Leben aufzubauen. Er blieb hinter der Grenze, in der Ortenau, hängen. In Achern wollte er Fuß fassen. Robert suchte sich Gelegenheitsjobs. »Doch ohne Wohnung bekam ich keinen festen Arbeitsvertrag und ohne Arbeitsvertrag keine Wohnung.« Ein Teufelskreis. Er blieb obdachlos – und wurde schwer krank.
Zu dieser Zeit besuchte er immer wieder die Wärmestube des St.-Ursula-Heims. Dort können erschöpfte und durchgefrorene Wohnungslose für einige Stunden Ruhe finden, etwas zu essen und Kontakt mit anderen Menschen. In der Pflasterstube gibt es erste medizinische Versorgung. Robert fiel den Sozialarbeitern auf. »Die haben mir geraten, dass ich dauerhaft ins St.-Ursula-Heim gehen soll«, erzählt der 58-Jährige. Und ins Krankenhaus. Robert musste operiert werden. Es war das Endspiel um seinen Körper.
Die Operation glückte. Doch gewonnen war noch nichts. Jetzt ging es darum, dass Robert sein Leben in den Griff bekommt. Wer im St.-Ursula-Heim wohnen will, muss sich an die Hausregeln halten und den Willen mitbringen, an der eigenen Lage etwas zu ändern. Waffen und harte Drogen sind verboten. Wer gewalttätig wird, fliegt raus. Selbst die Essenszeiten sind genau festgelegt: Frühstück gibt es um sieben, Mittagessen um eins und Abendessen um sechs. Betreuer passen auf, dass die Bewohner zum Essen erscheinen. Die Strukturen sollen Halt geben. Das ist gewöhnungsbedürftig nach dem Leben in totaler Freiheit auf der Straße. Manche Bewohner scheitern daran. Robert hat gewonnen.
»Mir ist es leicht gefallen, mich anzupassen«, erzählt er. Alternativen hatte er ohnehin nicht. Er kämpfte sich zurück ins Leben. Im St.-Ursula-Heim gibt es Arbeitsmöglichkeiten für die Bewohner, etwa als Koch oder in der Verwaltung. Robert griff zu. Endlich konnte er sich wieder beweisen. »Noch auf Krücken habe ich angefangen, als Pförtner zu arbeiten«, erzählt er. Vor allem nachts waren die Dienste des bulligen Mannes gefragt. Was für ein Sieg über das eigene Schicksal, befreit von den Geiseln des Alkohols, der Gewalt und der Kälte der Straße.
Bis zum Januar 2015 wohnte Robert im St.-Ursula-Heim. Danach zog er mit anderen Männern in eine Wohnung in Offenburg, die das Heim angemietet hat. Ein weiterer Schritt zur Normalität. Doch sein Kampf geht weiter. Er hat kein eigenes Konto, kein Telefon, bezieht Hartz IV. Mit seinem Zottelbart bleibt er ein Fremdkörper in der Hochglanzwelt des 21. Jahrhunderts. »Ich bewerbe mich ständig, etwa als Lagerist«, sagt er. »Schwere Arbeiten kann ich aber nicht mehr ausführen.« Die Hoffnung auf einen festen Job gibt er trotzdem nicht auf. Und er kann wieder träumen. »Ich würde gerne eine Reise nach Rom unternehmen. Mit meinem eigenen kleinen Auto.« Das St.-Ursula-Heim war Roberts letzter Halt: eine Werkstatt für geschundene Seelen. Nun bricht er auf. In ein neues Leben. Ein besseres..