Wenn das Heilen nicht gelingt, braucht es Familienmedizin

Oberarzt Tobias Dietel (links) mit der neunjährigen Svea Patzak (Mitte) und deren Familie. Das Mädchen gilt bislang noch nicht als geheilt und muss in Behandlung in der Diakonie Kork bleiben. Die Familie muss sich darauf einstellen. ©ULRICH MARX
Was bleibt, falls es nicht gelingt, das epilepsiekranke Kind zu heilen? Der Mediziner Tobias Dietel berichtet über Familienmedizin in der Klinik für Kinder und Jugendliche im Epilepsiezentrum Kork. Die Benefizaktion „Leser helfen“ sammelt Spenden für die Diakonie Kork.
Epilepsien bei Kindern und Jugendlichen sind häufig. Knapp zwei von 100 Kindern (1,8 Prozent) erleben bereits im Alter bis zwei Jahren einen epileptischen Anfall. Tobias Dietel setzt sich auch für die Angehörigen seiner jungen Patienten ein und leistet im Bereich der Familienmedizin einen wichtigen Beitrag. „Die Weltgesundheitsorganisation schätzte 2019, dass weltweit 50 Millionen Menschen an einer Epilepsie erkrankt waren“, berichtet der Oberarzt der Neuropädiatrie in der Klinik für Kinder und Jugendliche im Epilepsiezentrum Kork.
30 Prozent bleiben krank
Epilepsie sei eine gut zu behandelnde Erkrankung. Die meisten Menschen werden mit dem ersten oder zweiten Medikament anfallsfrei und führen ein Leben, das sich kaum von Leben der Gesunden unterscheide. Trotzdem habe die Zahl der Menschen, die bei richtiger Behandlung weiter Anfälle bekommen, nicht unter 30 Prozent gesenkt werden können. „Genau diese Patienten mit einem therapieschwierigen Verlauf finden im Epilepsiezentrum in Kork Hilfe und Unterstützung. Die Familien reisen mit dem Wunsch, dass ihre Kinder wieder gesund werden, oft mehrere hundert Kilometer weit“, beschreibt der Mediziner.
Leider gelinge es im Alltag oftmals nicht, den Patienten und Angehörigen diesen Wunsch zu erfüllen. „Aber was bleibt uns dann zu tun? Es ist eine große Herausforderung, die Wünsche und Erwartungen der Familien zu verstehen und daraus gemeinsame, erreichbare Ziele zu finden. Dies ist oft ein schmerzhafter Prozess, der aber gleichsam das Tor in eine lebbare Zukunft öffnet“, sagt Tobias Dietel.
Familienangehörige von Kindern mit einer therapieschwierigen Epilepsie stünden unter einer außergewöhnlich großen Belastung. „Die Anfälle werden von den Angehörigen oft als lebensbedrohlich erlebt und es besteht auch real das Risiko, sich zu verletzen oder sehr selten zu sterben.“ Die Angehörigen seien aber auch durch erforderliche Maßnahmen der Ersten Hilfe, wie die Gabe von Medikamenten, Alarmierung des Rettungsdienstes, stationäre Aufnahmen, der Organisation von Betreuern, deren Anleitung oder mit Arztterminen ständig gefordert, so Dietel.
Ständige Anspannung
Anfälle hätten Einfluss auf das gesamte Familiensystem, den Schlaf, die Partnerbeziehung, die Berufstätigkeit der Eltern, die finanzielle Situation und die Freizeitaktivitäten der Geschwister. Dietel: „Sie erzeugen einen Zustand der kontinuierlichen Anspannung und Angst, vor jedem neuen Anfall, den Auswirkungen auf die Entwicklung und die Zukunft allgemein.“
Im Zentrum der Arbeit des multiprofessionellen Teams der Stationen stehe die optimale Behandlung des Patienten und die Begleitung der Familien. Behandelt werde auf hohem Niveau medikamentös, durch spezielle Diäten oder auch durch operative Eingriffe am Gehirn. Dietel: „Wir haben keinen Zweifel daran, dass ein familienzentriertes Konzept nicht nur die Behandlung der Patienten unterstützt und die Familien stabilisiert, sondern auch das Potenzial hat, Gesundheit und Lebensqualität zu erhalten.“ Hinweise dafür würde es bereits seit fast 100 Jahren geben.
Zahlreiche Studien, die Familien mit schwer beeinträchtigten Kindern unterschiedlicher Ursache im Fokus hatten, hätten gezeigt, dass Konzepte, die die besondere Situation der Eltern schwer kranker Kinder adressieren, Belastungen wie Stress, Depressionen oder Schlafstörungen reduzieren und Erkrankungen bei den betreuenden Personen verhindern, beruft er sich auf wissenschaftliche Quellen. Dies sei Behandlung und Prävention zugleich „und entspricht auch unseren Beobachtungen“, sagt der Oberarzt.
In den vergangenen Jahren habe das Team der Station Jackson, auf der Säuglinge und Kleinkinder behandelt werden, diesen Ansatz weiterentwickelt. Der Hauptgrund dafür war, dass vermehrt Familien mit einem sehr kurzen Krankheitsverlauf aufgenommen wurden. „Die Eltern binden sich am Anfang der Verarbeitung mit den genannten schwierigen Erfahrungen. Ein wesentlicher Faktor, den die Familien trotz des unerfüllten Wunsches der Heilung des Kindes als hilfreich erleben, ist die Qualität der Kommunikation“, betont der Oberarzt.
Ehrlich und verständlich
Entscheidend dafür sei Zeit. Dem Team der Station gelang es trotz knapper Ressourcen, den Familien zeitnah für Gespräche zur Verfügung zu stehen. Es gebe tägliche Angebote durch die Mitarbeiter des pflegepädagogischen Dienstes und nach Absprache durch die Ärztinnen und Therapeutinnen des Teams. Hierbei stünden die Würdigung der Belastung der Eltern, die ehrliche und verständliche Darstellung der medizinischen Informationen und die konkrete Planung des stationären Aufenthalts und der Hilfsangebote im Vordergrund.
Die besondere Situation der überregionalen Versorgung führe dazu, dass unter der Woche in der Regel nur ein Elternteil zur Verfügung stehe. „Dadurch entsteht das Risiko einer schrägen Kommunikation“, erklärt Dietel: Ein Elternteil müsse versuchen, die medizinischen Informationen, die ohnehin oft schwer zu fassen sind, an den anderen Elternteil weiterzugeben. „Aus unserer Erfahrung behindert dies die Eltern, sich über die wesentlichen Themen wie Sorgen und Trauer auszutauschen und letztlich auch eine neue Hoffnung zu finden. Unser Ziel, während eines Aufenthaltes mindestens zwei ausführliche ärztliche Gespräche auch mit beiden Eltern zu führen, war trotz hohen Engagements nicht immer zu erreichen“, bedauert er.
Gespräche mehr online
Die Corona-Pandemie habe hier mit Videotelefonaten eine Möglichkeit nahegebracht, die vorher, trotz Verfügbarkeit, nicht genutzt worden sei.
„Sehr gerne möchte sich unser Team weiterentwickeln, um nicht nur ein familienmedizinisches, sondern ein familientherapeutisches Angebot zur Verfügung stellen zu können. Leider ist eine solche Arbeit mit dem aktuellen Budget der Krankenkassen nicht ausfinanziert“, beschreibt Tobias Dietel. Neben der klinischen Arbeit bedürfe es somit eines politischen Engagements und einer Wahrnehmung der Problematik in der Öffentlichkeit, fordert Dietel.
Dafür sammeln wir
◼ für ein neues Therapiepferd für die Hippotherapie,
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◼ und die Existenzsicherung der einzigen Epilepsieberatungsstelle in Baden-Württemberg.
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