Sterben im Ersten Weltkrieg

Der Winterbergtunnel birgt ein grausames Geheimnis

Knut Krohn
Lesezeit 7 Minuten
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18. Dezember 2020
Ein Bild aus dem Ersten Weltkrieg zeigt die Stellung am Winterberg.

Ein Bild aus dem Ersten Weltkrieg zeigt die Stellung am Winterberg. ©Foto: privat/privat

Privatleute haben in Frankreich einen lange gesuchten Tunnel entdeckt, in dem im Ersten Weltkrieg mehrere Hundert deutsche Soldaten jämmerlich erstickt sind. Nun gibt es Streit mit den Behörden um das weitere Vorgehen.

Paris - Die Natur zeigt sich am Chemin des Dames von ihrer gnädigen Seite, sie hat ein grünes Leichentuch über die Gegend gelegt. Wiesen und Wälder bedecken die sanften Hügel, die mit dem Blut von vielen Zehntausend Menschen getränkt sind. Vor knapp über 100 Jahren war dieser heute so friedliche Ort die Hölle. Deutsche und französische Truppen hatten sich während des ersten Weltkrieges tief in die Landschaft gegraben und überschütteten die Gegenseite Tag und Nacht mit ihrem todbringenden Bombardement. Noch heute finden Bauern auf den Feldern beim Pflügen Ausrüstungsgegenstände oder auch menschliche Knochen, stumme Zeugen jenes menschenverachtenden Gemetzels.

Um den Tunnel ranken sich viele Mythen

Nach Jahrzehnten des Vergessens weckt die Gegend nun allerdings wieder große Begehrlichkeiten. Der Grund ist ein verschütteter Stollen, der sich auf halber Höhe über dem Dörfchen Craonne befinden soll und um den sich viele Mythen ranken. Experten vermuten darin eine militärhistorische Sensation. Der Grund: in der barbarschen Geschichte des Ersten Weltkrieges ist an jenem Flecken im Mai 1917 ein besonders grausames Kapitel geschrieben worden. Mehrere Hundert Männer des Reserve-Infanterie-Regiments 111 fanden, eingeschlossen im Winterbergtunnel, ein jämmerliches Ende ihres jungen Lebens.

Viele der Soldaten stammten aus Baden und waren in Craonne eingesetzt, als die französische Armee am 4. Mai 1917 eine Offensive startete. Seit dem Morgen rollte die Angriffswelle, schweres Artilleriefeuer prasselte auf die Männer nieder, die sich in den Tunnel zurückgezogen hatten. „Der ganze Berg bebte, Sand regnete von der Decke, und trotz einer 20 Meter dicken Bodendecke glaubte man in jedem Moment, dass der Tunnel einstürzen würde“, schreibt ein Offizier in den Tagebüchern des Regiments. Kurz vor Mittag nahm die Katastrophe ihren Lauf. Eine schwere französische Granate traf den Eingang, dichter Rauch füllte den Stollen, eine Handvoll Männer schafften es nach draußen, doch weit über 200 Soldaten stürmten ins Innere des Tunnels, um sich in Sicherheit zu bringen – doch es war eine tödliche Falle.

Die Soldaten betteln um Erlösung

Die ersten Meter des Stollens waren eingestürzt, die Lüftungslöcher zugeschüttet. Einer von nur drei Überlebenden schildert den tagelangen Todeskampf der Eingeschlossenen. Wegen des ständigen Granatbeschusses konnte keine Hilfe zu ihnen gelangen, also versuchten sie sich mit bloßen Händen zu befreien. Doch der Sauerstoff wurde knapp und die Hitze unerträglich. In ihrer Todesangst begannen sich manche Männer selbst zu erschießen oder baten Kameraden darum, es zu tun. Die Sterbenden „riefen nach ihren Eltern, ihren Ehefrauen, ihren Kindern“, erzählte der gerettete Soldat.

Nach dem Krieg war den Eingang des Tunnels nicht mehr zu finden, obwohl immer wieder Versuche gestartet wurden, aber keine Kartenangabe passten mehr zur Landschaft, die Verwüstungen waren zu groß. So wurde der gesamte Hügel zu einem großen Friedhof. Nach offiziellen Angaben starben am Winterberg auf beiden Seiten jeweils 200 000 Menschen.

Die Hartnäckigkeit eines U-Bahn-Schaffners

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Doch der grausame Tod der eingeschlossenen Männer des badischen Reserve-Infanterie-Regiments 111 ist nur eine Ebene der Geschichte, der zweite Teil beginnt in den Militärarchiven des Château de Vincennes in der Nähe von Paris. Dort kämpfte sich ein U-Bahn-Schaffner Anfang der 1980er Jahre in seiner Freizeit durch die schriftlichen Zeitzeugnisse, die es von der Schlacht am Winterbergtunnel noch gibt. Alain Malinowski ist in Orainville geboren, einer kleinen Gemeinde nördlich von Reims. Bis zum Winterberg sind es nur wenige Kilometer. Aufgewachsen zwischen Schlachtfeldern und Soldatenfriedhöfen, beginnt er schon als Kind durch die Umgebung zu streifen, immer auf der Suche nach Erinnerungsstücken aus dem Ersten Weltkrieg. Diese Leidenschaft lässt den heute 63-Jährigen nicht los und treibt ihn schließlich in die Archive.

Dort entdeckt der Hobbyforscher eine Dokumentenkiste, darin die Lagepläne eines fast 300 Meter langen Tunnels in der Nähe von Craonne, der den Soldaten als Unterstand und Munitionslager diente. Besessen von der Idee, den legendären Winterbergtunnel gefunden zu haben, machte Alain Malinowski sich vor Ort auf die Suche. Unzählige Misserfolge ließen ihn nicht verzweifeln, bis er sich schließlich nach fünfzehn Jahren am ersehnten Ziel sieht. Auf einer historischen Karte glaubte er eine Weggabelung erkennen zu können, die ihm als Anhaltspunkt diente, um den Eingang zu lokalisieren. „Ich konnte es fühlen. Ich wusste, dass ich nahe dran war, dass der Tunnel irgendwo unter meinen Füßen lag“, sagt Alain Malinowski. Im Jahr 2010 übergab er seine Erkenntnisse den französischen und deutschen Behörden. Deren Reaktion fiel allerdings ganz anders aus, als von ihm erhofft.

Die großen Zweifel der Behörden

Anstatt sich sofort an die Ausgrabung zu machen, wurden weitere Untersuchungen angestellt. Zudem wird klar, dass die offiziellen Stellen die Arbeiten von Amateurforschern bisweilen eher kritisch beäugen. In ihren Augen gibt es zu viele schwarze Schafe, die vor allem auf den schnellen Ruhm oder das Geld durch den Verkauf von gefundenen Devotionalien aus sind. Andere meinen es gut, zerstören aber bei ihren unsachgemäßen Ausgrabungen mehr, als sie helfen.

„Wir haben nichts falsch gemacht“, versichert Erik Malinowski. Er und sein Bruder Pierre sind schon vor Jahren von der großen Leidenschaft ihres Vaters für die Suche nach dem Winterbergtunnel angesteckt worden. „Unser Ziel ist es, die toten Soldaten zu bergen und ihnen ein würdiges Begräbnis zu geben.“ Sie verstehen das Zögern der offiziellen Stellen nicht, graben im vergangenen Winter schließlich auf eigene Faust und mit schwerem Gerät nach dem Tunneleingang – und werden fündig. Aus mehreren Meter Tiefe befördern sie eine Glocke und andere Dinge, die zum Eingang des Stollens gehören könnten. Danach verschließen sie das Loch wieder und informieren die Behörden - die sind angesichts der nächtlichen und illegalen Aktion entsetzt.

Große Angst vor Plünderungen

In einer Mitteilung verurteilt der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK) die Grabungen. Dessen Generalsekretärin Daniela Schily erklärt: „Das Bemühen, die Toten zu suchen ist ehrenwert, doch die Durchführung der Aktion – ohne Beteiligung und Genehmigung der zuständigen Behörden – ist unangebracht, sogar kontraproduktiv. Selbst wenn historisch Interessierte denken, sie müssten aktiv werden, um die Toten zu bergen, können diese im schlimmsten Fall das Gegenteil bewirken, nämlich die Plünderung der Gräber.“ Der VDK hat in diesen Tagen, zusammen mit den französischen Partnerorganisationen, weitere geophysikalische Untersuchungen angestellt, um den Tunnel genauer zu lokalisieren. Die Ergebnisse werden in diesen Wochen ausgewertet.

Die erste, unerlaubte Grabung hat allerdings gezeigt, dass es der Familie Malinowski schwerzufallen scheint, die nötigen Absprachen und das Einholen der erforderlichen Genehmigungen abzuwarten. Vor allem Pierre Malinowski genießt in den einschlägigen Kreisen den eher zweifelhaften Ruf, sich häufig nicht an die geltenden Regeln zu halten. Immer wieder gräbt er unerlaubt in der Gegend, um die Behörden erst danach von seinen Funden zu informieren. Aber auch er versichert immer wieder, dass es ihm nur um die armen Seelen gehe, die im Winterbergtunnel qualvoll ihr Leben gelassen haben. „Der Gedanke, dass sie dort sind, irgendwo verlassen, ohne Grab, das ertrage ich nicht“, sagt Pierre Malinowski. Er ist wild entschlossen, dem Winterbergtunnel sein grausiges Geheimnis nach 103 Jahren zu entlocken.

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