Kinder und Ernährung

Kinder, kommt zu Tisch!

Bettina Hartmann
Lesezeit 6 Minuten
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19. April 2021
Einst versammelte sich – wie hier in Frederick George Cotmans Gemälde von 1880 – die ganze Familie zum Essen. Heute schafft man sich dafür Inseln.

Einst versammelte sich – wie hier in Frederick George Cotmans Gemälde von 1880 – die ganze Familie zum Essen. Heute schafft man sich dafür Inseln. ©Foto: Mauritius/Alamy//Artiz

Familien bleibt im Alltag oft wenig Zeit füreinander. Gemeinsame Mahlzeiten bieten die Möglichkeit, sich auszutauschen. Rituale sind dabei wichtig, denn sie geben Struktur und Halt.

Berlin - Alltag in Deutschland: Die Eltern sind berufstätig, essen mittags in der Kantine, holen sich was beim Bäcker oder im Supermarkt. Bei den Kindern gestaltet es sich ähnlich. Ein Mittagessen mit der ganzen Familie? Unter der Woche? Fehlanzeige. Seit Beginn der Pandemie hat sich das Koch- und Essverhalten durch Homeschooling und das Arbeiten von zu Hause zwar etwas verändert. In der Regel fehlt dafür aber die Zeit und die Gelegenheit. Selbst das Frühstück wird häufig im Vorbeigehen erledigt oder fällt flach. Gibt es in Deutschland also überhaupt noch Essensrituale in Familien? Oder ist ein großer Tisch, an dem sich alle treffen und austauschen, nur noch ein Relikt aus vergangenen Tagen, maximal eine Wunschvorstellung und vielleicht sogar aus der Mode gekommen? Nein, so schlimm ist es nun wirklich nicht. Der Mensch muss schließlich essen. Und die Familie ebenfalls. Laut einer Studie im Auftrag des Deutschen Kinderhilfswerks in Berlin vom August 2020 ist es Kindern, Jugendlichen und Eltern bis heute wichtig, dass beim Essen alle Familienmitglieder ihre Füße unter einen Tisch strecken. Allerdings haben sich die Zeiten verlagert: auf abends, aber vor allem auf das Wochenende.

Esstisch als Herz der Familie

Unter der Woche sind die Tage durch veränderte Arbeits- und Schulzeiten sowie volle Terminkalender hektischer und schwerer planbar geworden. Manche Familien geben sich nur noch die Klinke in die Hand. Mitunter schleichen sich auch Gewohnheiten ein – die Eltern sind zu müde, um noch etwas zuzubereiten, der Teenager zieht sich ohnehin lieber aufs eigene Zimmer zurück und isst allein vorm Computer. Für den dänischen Familientherapeuten und Bestsellerautor Jesper Juul (1948–2019) stand fest, dass derartige Verhältnisse der Familie schaden: „Ohne gemeinsames Essen geht die Einheit verloren.“ Bindung entstehe schließlich durch Nähe. Und hier spiele das Essen eine entscheidende Rolle, so Juul weiter. Erst am Tisch erfahre man, was die anderen erlebt haben und wie es ihnen geht. Den Tisch bezeichnete er daher als „das Herz der Familie“. Holger Hofmann, der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerks, drückt es so aus: „Die Esskultur einer Familie hat großen Einfluss auf die Sozialisation und das Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen.“ Die gemeinsamen Momente am Esstisch stellten dabei wichtige Rituale dar: „Diese Auszeit stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl und intensiviert die jeweilige Bindung zwischen den einzelnen Familienmitgliedern.“

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Man erfährt Zuwendung, Geborgenheit, Sicherheit, bekommt Struktur und Halt. Ernährung ist eben nicht nur Nahrungsaufnahme und satt werden, sondern auch Genuss und Kultur. Sie ist stets im Fluss, spiegelt Geschichte, Status und Werte wider. Der Sozialhistoriker Uwe Spiekermann, der unter anderem zur Ernährungsgeschichte forscht, kam zu dem Schluss: „Essen hatte schon immer eine soziale Komponente, war Mittel zur Kommunikation.“ Die Art, wie wir heute essen, sei im 19. Jahrhundert festgelegt worden. Grundlegend habe sich seitdem nichts mehr verändert. Dennoch gibt es Trends: „Heute wird generell mehr Augenmerk auf das Abendessen gelegt, während noch vor 30 Jahren das Mittagessen im Mittelpunkt stand“, bestätigt Spiekermann.

Fernseher und Handy sind tabu

Allen Hindernissen zum Trotz, ob morgens, mittags oder abends, wenn alle zusammensitzen, kann man praktische Dinge klären – und noch wichtiger: die anderen mit ihrem Kummer, ihren Problemen und ihren Freuden wahrnehmen. Dafür braucht es jedoch Zeit. Fernseher und Handy sollten somit bei Tisch tabu sein. Nur so kann man zur Ruhe kommen und Aufmerksamkeit schaffen – füreinander und für das Essen selbst. Kinder erfahren dabei, dass Ernährung nicht nebensächlich ist, dass es schön ist, an einem gedeckten Tisch zu sitzen, dass es zusammen besser schmeckt – und dass Gespräche Spaß machen.

Obwohl das gemeinsame Essen als Institution nicht wackelt, hapert es inzwischen aber an der Kommunikation. „Sei still, sitz gerade und iss!“ – das gehört zwar längst der Vergangenheit an. Doch wie vor ein paar Jahren eine Umfrage in Großbritannien feststellte, weiß so mancher immer seltener, über was er sich mit dem Partner oder mit den Kindern unterhalten soll. In Deutschland sieht es wohl ähnlich aus. Dabei ist es ganz einfach: „Um Familienmahlzeiten optimal zu nutzen, sollte es entspannte Gespräche und Lachen geben“, erklärte die Psychologin Linda Papadopoulos zur Studie. „Kinder fühlen sich so als ein Teil vom Ganzen – und es ist wichtig für die Entwicklung ihrer sozialen Kompetenz.“ Es müssen keine ernsthaften Themen sein: Wie war es in der Schule? Was ist den Tag über passiert? Welche Pläne gibt’s fürs Wochenende? Wie schmeckt das Essen? Das Wichtigste ist, dass man überhaupt miteinander spricht. „Es ist belegt, das eine Unterhaltung bei der Mahlzeit das Selbstbewusstsein von Kindern stärkt, dass sich dadurch ihr Sprachvermögen verbessert und sich die schulischen Leistungen steigern“, sagt Expertin Papadopoulos. Tatsächlich profitiert die gesamte Familie, wenn jeder die Chance hat, etwas loszuwerden. Darum sollte man versuchen, es regelmäßig hinzubekommen.

Wer nicht allein isst, lebt gesünder

Um Benehmen und Tischsitten ist es laut der Umfrage des Kinderhilfswerks gut bestellt. 76 Prozent der Teilnehmer gaben an, dass erst gegessen wird, wenn alle am Tisch sitzen. 60 Prozent bleiben sitzen, bis alle fertig sind. Ein weiterer positiver Aspekt: Gemeinsam schmeckt es besser – und man isst gesünder. Zahlreiche Studien belegen unter anderem, dass Kinder, die mit ihren Familien essen, seltener übergewichtig sind als Kinder, die allein ihren Hunger stillen. Woran das liegen kann, haben sich 2018 Psychologen vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und der Uni Mannheim angeschaut. Sie verglichen 50 Studien miteinander und stellten sechs Faktoren zusammen, die zur gesunden Ernährung beitragen: eine angenehme Atmosphäre schaffen. Sich Zeit lassen. Schluss mit der Dauerberieselung. Hochwertige Lebensmittel verwenden. Mit gutem Beispiel vorangehen, also eher zu Gemüse statt zum Schnitzel und zum Schokopudding greifen. Und schließlich: Essen gemeinsam zubereiten. Das kann wohl jeder bestätigen, der schon mal mit anderen gekocht hat: beim Schnippeln, Abschmecken und Rühren kommt man sich näher, man unterhält sich und lacht gemeinsam. Liebe geht somit eben doch durch den Magen.

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