Serie: Fundstücke - Zweiter Weltkrieg
Dossier: 

Als die Mutter vor Angst zitterte

Michael Haß
Lesezeit 4 Minuten
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30. April 2015

(Bild 1/2) Für viele Kinder war die Kriegszeit ein großes Abenteuer. Doch sie litten auch unter den Umständen und mussten ihre Heimat verlassen. Der Vormarsch der Roten Armee löste von 1944 an eine beispiellose Völkerwanderung in Europa aus. Von den 12,5 Millionen deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen kam mit knapp 7 Millionen der größte Teil aus den ehemals deutschen Gebieten östlich von Oder und Neiße. Bei Flucht und Vertreibung verloren etwa 1,4 Millionen Menschen ihr Leben. ©Archivfoto

Vor 75 Jahren breitete sich der Zweite Weltkrieg in Europa aus und brannte sich ins Gedächtnis der Menschen ein. Die Mittelbadische Presse blickte im vergangenen Herbst auf die wichtigsten Ereignisse des Krieges zurück und rief Zeitzeugen dazu auf, ihre Geschichten zu erzählen. Mit der Serie »Fundstücke – Zweiter Weltkrieg« kommen jeden Donnerstag Menschen zu Wort und lassen Geschichte lebendig werden. Heute berichtet Ingeborg Lang aus Kehl über ihre Erlebnisse während des Krieges und die Vertreibung aus Niederlindewiese im Sudetenland. Die 77-Jährige hat großes Mitgefühl für Flüchtlinge. Sie weiß, was es bedeutet, die Heimat zu verlassen. Unter www.bo.de/fundstuecke lassen sich die bisherigen Erinnerungen der Ortenauer an den Krieg nachlesen.

Johann Schroth hat im 19. Jahrhundert in Niederlindewiese die Schrothkur bekannt gemacht und der Schlagersänger und Liedermacher Robert Jung stammt aus dem kleinen Kurort im Sudetenland. Wenn Ingeborg Lang von ihrer Heimat erzählt, hört man die Verbundenheit zum ehemaligen Landkreis Freiwaldau.
Vom Krieg hat die 1937 geborene Ingeborg Lang wenige Erinnerungen. »Die Bomber sind über uns weggeflogen.« Erst als im Januar 1945 die Rote Armee einmarschierte, herrschte unter der Bevölkerung blankes Entsetzen. »Die Frauen sind vor den Russen geflüchtet.« Es folgten schlimme Jahre. Von 1945 bis 1948 gab’s keine Lebensmittelkarten. Die Familie musste sich durchschlagen. »Wir waren Häusler, keine Bauern.« So blieb Ingeborg Lang und ihrer Mutter nichts anderes übrig, als bei Bauern um Essen zu betteln.

Russische Soldaten

Die Großmutter wohnte im 70 Kilometer entfernten Groß Stohl im damaligen Landkreis Römerstadt und hatte ein Restaurant. Nachts um zwei Uhr machten sich Ingeborg Lang und ihre Mutter mit dem Leiterwagen auf den Weg durchs Altvatergebirge zur Großmutter. 20 Stunden später haben sie den Gewaltmarsch über drei Berge gemeistert – und das mit nur einer Scheibe trockenem Brot als Proviant. »Bei Oma bekamen wir Essen und Vorräte, da sie als Wirtin Gänse und Enten hatte.«

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Auf einem der Märsche kamen Mutter und Tochter zwei russische Soldaten entgegen. »Meine Mutter zitterte vor Angst am ganzen Körper.« Die beiden Soldaten liefen grüßend an ihnen vorbei und riefen ihnen ein paar Meter weiter hinterher. »Die Soldaten haben das Kopftuch meiner Mutter gefunden, das sie unmittelbar zuvor verloren hatte und gaben es ihr zurück.«
Die Sudentendeutschen wurden zwischen 1945 und 1946 unter Androhung und Anwendung von Gewalt zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen. Nach dem Benes-Dekret vom Oktober 1945 wurde das gesamte Vermögen  der deutschen Einwohner konfisziert und unter staatliche Verwaltung gestellt. So auch das Haus von Ingeborg Lang und ihrer Familie. Dabei hatten sie noch Glück. »Bei uns wurde eine Familie eingewiesen, die uns ein 25 Quadratmeter großes Zimmer für meine Eltern, meine Schwester und mich überließen. »Sie hätten uns auch aus unserem Haus rausschmeißen können.« Von dieser Familie erhielten sie auch immer mal wieder eine Tasse Milch.

Die Abschiebung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei begann im Januar 1946. Während dieses Jahres wurden über zwei Millionen Menschen ausgesiedelt, großteils nach Deutschland. Ausgenommen von der Abschiebung waren lediglich Personen, die unentbehrliche Facharbeiter oder Verheiratete, deren Partner Tschechen waren. Im Sommer 1947 musste Ingeborg Lang und ihre Familie die Heimat verlassen – mit nur 50 Kilogramm Gepäck pro Person. In Viehwaggons mit bis zu zehn Familien ging’s Richtung Westen. Die Fahrt dauerte eine Woche. Ein Erlebnis vergisst sie ihr Leben lang nicht: Auf der Fahrt starb ein Kind an hohem Fieber. Die Soldaten befahlen der Mutter, das Kind in ein Leintuch zu wickeln und neben das Bahngleis zu legen. »Das war für uns alle ein unerträglicher Anblick.«

Wasser und Kartoffelschalen

Auf der Fahrt gab’s in Prag heißes Wasser mit Kartoffelschalen. Über Augsburg kam die Familie nach Kempten. Die Flüchtlinge und Vertriebenen wurden von den deutschen Einheimischen oft feindselig behandelt, sodass die wirtschaftliche Not häufig mit Ausgrenzung und einem sozialen Abstieg verbunden war. »Hurenflüchtlinge« wurde die Familie von Ingeborg Lang von manchen bezeichnet. Dabei erzählt sie, dass ihre Mutter sehr unter der Ausgrenzung der einheimischen Bevölkerung gelitten hat. Eine Erfahrung, die das Leben von Ingeborg Lang geprägt hat. »Wir dürfen nicht wegschauen, wenn Menschen aus Todesangst oder Hunger auf der Flucht sind.« Mit 44 Jahren lernte sie Altenpflegerin und ist auch noch im Rentenalter aktiv. Als Ehrenamtliche betreut sie Patienten im Kehler Krankenhaus.

Hintergrund

Im Viehwaggon unterwegs

Willi Stutz ist der älteste Einwohner im Durbachtal. Der 97-Jährige war während des Zweiten Weltkriegs in Ostpreußen, Russland, Frankreich, Holland an der Front und war zweieinhalb Jahre in französischer Kriegsgefangenschaft.

Durbach. »Meine 97 Jahre sind am Körper nicht spurlos vorbeigegangen, aber mein Geist ist noch fit«, begrüßt er zum Interview und kann sich noch genau an den Kriegsbeginn 1939 erinnern. »Es war ein ganz verregneter September und Oktober, so dass es sehr mühsam war, den Weizen in den Boden zu bringen. Auch die Kartoffelernte erfolgte durch den Regen erst im November.«
Von 1937 bis 1939 leistete Willi Stutz seinen Wehrdienst bei der Artillerie in Ludwigsburg. Im Oktober 1939 bezog er Stellung am Dreikönigsbunker zwischen Altenheim und Goldscheuer. Im damaligen Gasthaus »Krug« in Altenheim war der Unteroffizier Stutz einquartiert. Ein paar Wochen später wurde er Artilleriebeobachter im Turm der evangelischen Kirche. Im Dezember 1939 wurde der Kirchturm von französischer Seite aus beschossen. Stutz hatte Glück, dass er zu dieser Zeit nicht auf dem Turm war. Anfang 1940 wurde er nach Freudenstadt versetzt und im April kam er nach Brandenburg, wo er den Panzer- und Lkw-Führerschein absolvierte. Anschließend wurde er nach Mehlsack in Ostpreußen versetzt.

Am 22. Juni 1942 ist Stutz dabei, als deutsche Truppen die deutsch-sowjetische Grenze auf polnischem Gebiet überschreiten. Die deutschen Truppen waren in drei Heeresgruppen aufgeteilt, die durch einen schnellen Vormarsch große sowjetische Truppenverbände einkreisen und tief in sowjetisches Gebiet eindringen sollten. Die Heeresgruppe Nord unter Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb stößt von Ostpreußen aus durch die baltischen Staaten auf Leningrad vor; die Heeresgruppe Mitte unter Generalfeldmarschall Fedor von Bock marschiert entlang der Linie Warschau – Moskau, und die Heeresgruppe Süd unter Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt hat die Aufgabe, die sowjetischen »Kräfte in Galizien und in der Westukraine zu vernichten.

Das »Unternehmen Barbarossa« nahm seinen Lauf. Willi Stutz gehörte zur Heeresgruppe Nord und kam bis Leningrad. Noch heute schwärmt er von den Zarenschlössern, die er Ende Juni 1941 sah. Die Zarenschlösser im Süden von Leningrad, wie Puschkin, Pawlowsk und Gatschina, hat er noch bewundern können, ehe die Wehrmacht im Herbst 1941 die Kulturstätten zerstörten. 1943 erfolgte eine Neuaufstellung seiner Kompanie. Willi Stutz wurde nach Dänemark versetzt, kämpfte anschließend in Frankreich, an der Niederländisch-Belgischen Grenze, im Hunsrück und Oberbayern.
Am 3. Mai 1945 wurden Wilhelm Stutz und seine Kameraden bei Traunstein von amerikanischen Soldaten gefangen genommen. »Wir fuhren mit einem Lkw und einem Opel Blitz mit weißer Fahne auf die amerikanischen Truppen zu.« Zuvor haben sie in einem kleinen Dorf in der Nähe von Traunstein die deutsche Wehrmacht mit Schnaps und Cognac beerdigt. »Wir waren froh, dass alles vorbei war.« Zusammen mit rund 4000 Soldaten wurde Wilhelm Stutz auf dem Gelände des Militärflugplatzes von Fürstenfeldbruck gefangen gehalten. »Am 8.Mai, dem Tag der offiziellen Kapitulation, schossen die Amerikaner vor Freude in die Luft und ins Lager – einige von uns wurden tödlich getroffen.«

Über Ulm wurde Stutz nach Heilbronn in ein mit 300 000 Kriegsgefangenen großes Lager gebracht. Drei Monate verbrachte er dort, ehe er mit tausenden Kameraden in Viehwaggons nach Frankreich gebracht wurde. »Vier Tage mit 40 Mann und nur 40 Litern Wasser in den Waggons – das haben einige nicht überlebt.«

Im Norden und Westen Frankreichs gab es Zerstörungen, die Jahre der NS-Okkupation galten als nationale Schmach. Die Forderung nach Wiedergutmachung wurde laut. Da man dringend Arbeiter für den Wiederaufbau benötigte, wurden insgesamt 740 000 deutsche Kriegsgefangene von den Amerikanern an die Franzosen überstellt. Diejenigen, die aus den Lagern kamen, waren körperlich geschwächt, wogen kaum 50 Kilogramm.
Wilhelm Stutz kam erst nach La Flèche, dann nach Ancy. Am besten erging es denjenigen, die in der Landwirtschaft arbeiten durften. Stutz arbeitete bis 1947 bei französischen Bauern, kam nach Chambéry und Besancon. Am 19. Februar 1948 wurde er in Tuttlingen aus der Kriegsgefangenschaft entlassen.

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