Serie: Fundstücke - Zweiter Weltkrieg
Dossier: 

»Still jetzt, der Vater erzählt!«

Michael Hass
Lesezeit 5 Minuten
Jetzt Artikel teilen:
21. Mai 2015

70 Jahre nach Kriegsende wird an vielen Schauplätzen des Krieges an die Opfer gedacht – hier am sowjetischen Ehrenmal an der Straße des 17. Juni in Berlin. Margot Müller aus Offenburg lässt bis heute der Krieg keine Ruhe. Das ist überraschend, da sie erst 1948 geboren wurde. Warum der Krieg selbst heute noch in den Familien so lebendig ist, zeigt ihr Text. Archivfoto ©dpa

Vor 75 Jahren breitete sich der Zweite Weltkrieg in Europa aus und brannte sich ins Gedächtnis der Menschen ein. Die Mittelbadische Presse blickte im vergangenen Herbst auf die wichtigsten Ereignisse des Krieges zurück und rief Zeitzeugen dazu auf, ihre Geschichten zu erzählen. Mit der Serie »Fundstücke – Zweiter Weltkrieg« kommen jeden Donnerstag Menschen zu Wort und lassen Geschichte lebendig werden. Heute erzählt Margot Müller aus Offenburg, Jahrgang 1948, über die Auswirkungen des Krieges, die bis heute anhalten. Unter www.bo.de/fundstuecke lassen sich die bisherigen Erinnerungen der Ortenauer an den Krieg nachlesen.

Nachkriegskinder –mein Bruder (Jahrgang 1951) und ich müssen das Wort bis heute bei Familientreffen hören – und zwar von den beiden »großen Brüdern« (geboren 1933 und 1939). Die glauben, die Berechtigung zu haben, uns »Kleine« schikanieren zu dürfen mit diesem Begriff. Höre ich nicht jedes Mal ein gelindes, mitleidiges Bedauern in ihren Stimmen? Der Krieg hat immer noch seine Aus- und Nebenwirkungen bis in diese Tage.
Alle danach auf die Welt gekommenen nimmt man nicht für voll. Das sind Weichlinge, verwöhnt vom Wirtschaftswunder, die nichts aushalten können, nichts erlebt haben, nicht mitreden können. Die nicht ohne Vater (*1910) aufwachsen mussten, weil er an der Front war und in russischer Gefangenschaft. Vater, der seine besten Jahre opfern musste!

Gute Nachrichten

Wir Nachkriegskinder kennen nicht den Schrecken, der den anderen noch immer so prickelnd über den Rücken zu laufen scheint, wenn sie darüber reden können und sie vermutlich ein seltsames Glücksgefühl berauscht im gemeinsamen Erkennen, alles tapfer überlebt zu haben. Wir Nachkriegskinder kennen aber auch nicht das Hochgefühl, wenn gute Nachrichten von der Front kamen. Wir kennen keinen Zusammenbruch, aber auch nicht den Zusammenhalt untereinander. Uns Nachkriegskindern fehlt offenbar etwas Wesentliches.
Mir scheint, man konnte den Krieg niemals überleben, wäre man nicht gewillt gewesen, ihn wie eine besondere Gnade zu betrachten. Einer Heldentrophäe glich das Teilnehmendürfen an etwas Großem, Unbeschreiblichem! Meine Brüder atmeten quasi den Odem der Geschichte, erlebten ihn mit; es galt dies wie eine Kostbarkeit zu hüten. Auch als Kind verinnerlichte man dies und setzte alles daran, um ja nichts zu vergessen an Details und schrecklich Erlebtem, auch nicht den Stolz: Man war Kind und doch schon Mann. Ungefragt hineingestoßen, wurde man Teil eines gigantischen Mechanismus, zwar ein Rädchen nur, klitzeklein, und doch wesentlich und von eventueller Bedeutung. Ein 1933 geborener, sozusagen im Soge Hitlers groß gewordener Bub wurde zum Beschützer seiner Mutter, der Großmutter und des 1939 geborenen Bruders. Aus eigenem Verantwortungsbewusstsein heraus fühlte er sich zum Wächter des Hauses, des Anwesens bestimmt.

Ich kenne meinen ältesten Bruder nicht anders, als mit ernster Miene, strengen Regeln, schonungslosem, nur der Sache dienendem  Handeln und großer Selbstdisziplin. Betrogen um seine Kindheit, gereift an der Aufgabe.  Erst die letzten Jahre ließen ihn milder werden. Das Grauen scheint endlich überwunden. Zuweilen kommen ihm Anekdoten in den Sinn, die einstmals lebensgefährliche Verwicklungen beschreiben und über die er heute in aller Gemütsruhe schmunzeln kann.

Und noch immer mit dem etwas herablassenden Ausdruck im Gesicht, dass wir Nachkriegskinder nur halbwertig sind, da uns solch große Ereignisse der Geschichte entgangen waren. Doch wem wäre dieses Handeln nicht zu verzeihen, so ihm doch die ursprüngliche Euphorie im Schwange der kindlichen Träume und Hoffnungen begraben wurden, ersetzt durch die ganzen Gräuel, die über sie alle hereingebrochen sind?
Für diese Kinder mag es wenigstens den einen Sinn gehabt haben, dass sie sich nicht als Feiglinge, Duckmäuser, Verlierer fühlen müssen, sie tapfer waren, Opfer einer unsäglichen Zeit! Die noch einmal davon gekommen sind. Die fürchteten sich zum Glück nicht zu Tode. …  Dieses Gefühl sollen sie gerne haben.

- Anzeige -

Mir ist der Krieg durch die Gnade der späten Geburt erspart geblieben und ich habe nur vage Vorstellungen von all dem. Aber: Es verging kein Tag in meinem Elternhaus, solange ich die Beine unter meiner Eltern Tisch streckte, da nicht der Krieg mit uns am Tische saß. Es war einfach nicht möglich, diesem unbewältigten Thema auszuweichen. Alle, die davon betroffen waren beteiligten sich an dem Gespräch mehr oder weniger kenntnisreich; doch war die eine Person aufgeregt dabei, musste das Erlebte förmlich ausspucken, versank die andere wiederum in sich hinein, den ewigen Schrecken noch immer auf dem Gesicht abgebildet.

Von der Seele geredet

Der Vater redete sich das Unsagbare von der Seele, fand jegliche Gelegenheit, um auf Stichwort damit anzufangen von seinen Erlebnissen zu berichten, fantasievoll und bilderreich. Wir jüngeren Kinder hatten dann den Mund zu halten, wenn es hieß: »Still jetzt, der Vater erzählt!«

Damals entdeckte ich mein Talent, die Ohren zuzuklappen, wenn ich etwas nicht hören, oder besser, nicht mehr ertragen konnte. Erst viel später begriff ich, dass Erinnerungen wertvoll sind. Rettungsanker zum einen, Mahnung an uns alle! Ich hatte all das zu gegebener Zeit nicht hören wollen. Erst nach Vaters Tod wurde mir klar, was ich versäumt hatte, weil ich mich nicht zu fragen traute, nicht genug Interesse hatte oder auch keinen Mut, mich damit auseinander zu setzen. Also doch?! Nachkriegskind  – ohne Mumm?

Eines allerdings lernte ich: Mein tiefstes Sehnen und Hoffen auf: »Nie wieder Krieg!«

Hintergrund

Der Morgen verdrängt die Dunkelheit

Ingrid von Derschau, geborene Hug, hat als Zwölfjährige das Kriegsende in Lahr erlebt. Die heute 82-Jährige lebt im niederbayerischen Zwiesel und erinnert sich noch genau an die Geschehnisse vor 70 Jahren in ihrer Heimatstadt.
Am 17. April machten sich Lahrer Frauen zum Wehrmeldeamt auf und forderten, die Stadt kampflos zu überlassen. »Wenn sich das zuständige Wehrmeldeamt innerhalb von 24 Stunden nicht ergibt, so wird die Garnison-Stadt dem Erdboden gleichgemacht.« So lautete das französische Ultimatum. Vergebens warteten die Frauen auf das Läuten der Glocken, das als Zeichen für die Kapitulation vereinbart worden war. Also hängten sie weiße Leintücher auf, die auf Geheiß der Polizei jedoch wieder abgenommen werden mussten. »Tücher rauf, Tücher runter, immer fort.« Dann kam die Mutter heim und sagte, dass die Stadt verteidigt wird. »Morgen früh gehen wir in den Bunker.« Stumm wurden noch ein paar Habseligkeiten gepackt. Für die kleine Ingrid war es die tiefste Form der Hoffnungslosigkeit.

»Ein zauberhafter Morgen verdrängte die Dunkelheit.« Abschied von Nachbarn, ein letzter Blick zurück zum Haus. »Wir hatten mit allem abgeschlossen.«

Der Bunker lag außerhalb der Stadt. Ein Tief in die Erde gegrabener Gang. Dumpf, feucht und modrig.  »So stellte ich mir den Beginn des Sterbens vor.« Der Morgen verging, es wurde Mittag. Es passierte nichts im Bunker. Keine Flugzeuge. Nur ab und zu ein Granateinschuss in der Stadt. Um 15 Uhr bewegen sich plötzlich Panzer gegenüber dem Bunker-Eingang vom »Burgbühl« auf die Stadt zu. »Wir hielten die Luft vor Aufregung an. Noch immer kein Schuss zu hören. Es keimt Hoffnung auf. Leise fingen die Menschen an, miteinander zu reden. Zögernd trauten sich eine Handvoll Leute, den Bunker zu verlassen. Ingrid, die am Eingang des Bunkers stand, sah an der gegenüberliegenden Kaserne Soldaten. »Es waren Franzosen, die uns sagten, dass wir nach Hause gehen können. Der Krieg sei zu Ende.«

Weshalb sollte man den fremden Soldaten glauben? Wieso gab’s kein Granatfeuer, keine Gewehrschüsse? »Erst viel später erfuhr ich, dass die Stadt ihren Retter hat: Es war der baumlange Hausmeister der Friedrichschule.« Otto Schmidt lief den Franzosen mit einer weißen Fahne in der Hand entgegen und verhinderte so, dass Lahr weiter bombardiert wurde.

Es gab so gut wie keinen Widerstand. So wagte die Familie von Ingrid, nach Hause zu gehen. »Auf den Spuren von morgens lief man nun abends zurück – dazwischen lag die Auferstehung.«

Hintergrund

»Ich weiß, was Hunger bedeutet«

Reinhold Bongardt aus Steinach ist in Duisburg geboren und floh mit seiner Mutter vor den Bomben auf das Ruhrgebiet zu seiner Tante in den Hunsrück. Noch heute schaudert es ihn, wenn er Sirenen hört.
Reinhold Bongardt ist Jahrgang 1938 und wohnt seit über 40 Jahren im Kinzigtal. Hier hat er eine neue Heimat gefunden. Aber die Erinnerung an den Krieg hat er nicht vergessen.

Sein Vater war Soldat in Russland, wurde schwer verwundet und kam in Kriegsgefangenschaft. Die Mutter zog mit ihm 1942 hochschwanger aufs Land zur Tante. »Wir wohnten in einem kleinen Dorf in einer kleinen Wohnung«, erinnert er sich und erzählt, dass sein Bruder im September 1942 zur Welt kam, Oma und Opa ebenfalls zur Tante zogen und am Ende acht Personen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung hausten. »Das kann man sich gar nicht vorstellen.«

Vom Krieg hat er in dieser Zeit auf dem Land wenig mitbekommen. Aber an ein paar Begebenheiten erinnert er sich noch genau. Anfang 1943 beobachtete er auf einem Hügel, wie die Flugabwehr einen britischen Jagdbomber abschoss. »Da dachte ich, dass der Krieg jetzt vorbei ist.« Mit Zahnschmerzen marschierte er 1944 zum Zahnarzt. Dann heulten die Sirenen. »Alle sind in den Keller gerannt, nur ich saß noch alleine im Wartezimmer. Als niemand mehr kam, bin ich dann voller Angst nach Hause gelaufen.« Seither bekommt er Gänsehaut, wenn er Sirenen hört.

Nach Kriegsende fuhr Reinhold Bongardt mit seiner Mutter und seinem kleinen Bruder mit dem Zug bis Koblenz und von dort zu Fuß und per Anhalter bis Duisburg.  »Wir waren alle unterernährt und erkrankten an Rachitis.« 1947 kam der Vater aus der englischen Kriegsgefangenschaft nach Hause. »Für mich war das erstmal ein fremder Mann.« Gleich am nächsten Tag seiner Heimkehr ging der Vater mit seinem Sohn zum zerstörten Kinogebäude und sammelte Holzbretter auf, damit die Familie den Ofen heizen konnte. »Wir hatten so wenig zu essen, dass mein Vater Spatzen fing, rupfte und auf dem Herd briet.« »Ich weiß bis heute, wie sich Hunger anfühlt«, betont Bongardt.

Weitere Artikel aus der Kategorie: Nachrichten

22.03.2024
Nachrichten
Es ist eines der großen gesellschaftspolitischen Vorhaben der Ampel-Koalition - und jetzt am Ziel: Kiffen wird für Erwachsene in Grenzen erlaubt. Bei der Umsetzung gibt es aber noch offene Fragen.

Das könnte Sie auch interessieren

- Anzeige -
  • HYDRO liefert etwa Dreibockheber für die Flugzeugwartung. 
    26.03.2024
    HYDRO Systems KG und Rhinestahl fustionieren
    HYDRO Systems KG und Rhinestahl schließen sich zusammen. Mit diesem Schritt befinden sich die Kompetenzen in den Bereichen Ground Support Equipment (GSE) und Aircraft- & Engine Tooling unter einem Dach.
  • Alle Beauty-Dienstleistungen bietet die Kosmetik Lounge in Offenburg unter einem Dach.
    26.03.2024
    Kosmetik Lounge Offenburg: Da steckt alles unter einem Dach
    Mit einer pfiffigen Geschäftsidee lässt Elena Plett in Offenburg aufhorchen. Die staatlich geprüfte Kosmetikerin denkt "outside the box" und hat in ihrer Kosmetik Lounge ein außergewöhnliches Geschäftsmodell gestartet.
  • Konfetti, Flitter und Feuerwerk beschließen die große Preisverleihung im Forum-Kino in Offenburg. Die SHORTS feiern 2024 ihr 25. Jubiläum. 
    26.03.2024
    25 Jahre SHORTS – 25 Jahre Bühne für künftige Filmemacher
    Vom kleinen Screening in 25 Jahren zum gewachsenen Filmfestival: Die SHORTS der Hochschule Offenburg feiern Jubiläum. Von 9. bis 12. April dreht sich im Forum-Kino Offenburg alles um die Werke junger Filmemacher. Am 13. April wird das Jubiläum im "Kesselhaus" gefeiert.
  • Das LIBERTY-Team startet am Mittwoch, 27. März, in die Afterwork-Party-Saison. 2024 finden die Veranstaltungen in Kooperation mit reiff medien statt. 
    22.03.2024
    Businessaustausch jetzt in Kooperation mit reiff medien
    Das Offenburger LIBERTY startet mit Power in die Eventsaison: Am Mittwoch, 27. März, steigt die erste XXL-Afterwork-Party mit einem neuen Kooperationspartner. Das LIBERTY lädt zusammen mit reiff medien zum zwanglosen Feierabend-Businessaustausch ein.