Prozessauftakt in Freiburg

Tod des kleinen Alessio: Stiefvater legt Geständnis ab

Steve Przybilla
Lesezeit 6 Minuten
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15. September 2015
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Vor dem Landgericht Freiburg hat am heutigen Dienstag der Prozess im Fall „Alessio“ begonnen. Der dreijährige Junge aus Lenzkirch war Mitte Januar mit schweren Verletzungen beim Kinderarzt eingeliefert worden und dort verstorben. Der 33-jährige Stiefvater räumte die Schläge am Todestag ein, bestritt aber weitere Misshandlungen.

Es ist der Moment, auf den viele gewartet haben. Seit der dreijährige Alessio am 16. Januar qualvoll gestorben ist, steht der Stiefvater des Jungen unter dringendem Tatverdacht. Was wird der 33-jährige Hofbesitzer, der seither in U-Haft sitzt, zu den Vorwürfen sagen? Hat er Alessio wirklich mehrere Jahre misshandelt? Was treibt einen Menschen dazu, ein Kind in den Tod zu prügeln – sofern die Vorwürfe wirklich stimmen? Fragen über Fragen, die sich nicht nur die Richter, sondern auch viele Zuhörer stellen. Der Andrang im Saal IV des Landgerichts Freiburg ist so groß, dass spontan die Empore geöffnet wird.
Die Liste der Vorwürfe, die der Staatsanwalt vorträgt, ist lang. So soll der Angeklagte den Jungen nicht nur am 16. Januar mehrfach in den Bauch geschlagen haben, was schließlich zu Alessios Tod führte. Auch jahrelange Misshandlungen und Quälereien stehen im Raum. Von Hämatomen, Einblutungen und Verletzungen am Brustbein ist die Rede – „wie bei einem Boxer“, sagt der Staatsanwalt. Auch soll Alessio gezwungen worden sein, „zur Abhärtung“ in einem Planschbecken mit eiskaltem Bachwasser zu baden. Dazu immer wieder Ohrfeigen und Schläge aufs Gesäß, wenn der Junge nicht spurte.
Mit jedem Wort, das der Staatsanwalt vorträgt, beugt sich der Angeklagte ein Stück weiter nach vorne. Der 33-Jährige wirkt beschämt, fast eingeschüchtert. Als er seine Personalien bestätigen soll, spricht er so leise, dass der Gerichtsdiener ein zweites Mikrofon vom Zeugenstand holen muss. Immer wieder unterbricht er seine Sätze, um Luft zu holen. Und doch will er unbedingt aussagen. Der Landwirt aus dem Schwarzwalddorf Lenzkirch (bei Freiburg), der im kurzärmeligen weißen Hemd auf der Anklagebank sitzt, möchte seine Sicht der Dinge erklären.
Eva Kleine-Cosack, die vorsitzende Richterin, rollt den Fall von hinten auf. „Haben Sie Erinnerungen an ihre Kindheit?“, fragt sie den Angeklagten. Stockend schildert dieser sein eigenes Martyrium. Auch er sei jahrelang von der eigenen Mutter geschlagen worden. Der Vater, ein Lkw-Fahrer, habe nur am Wochenende Zeit für die Familie gehabt. „Wenn mein Bruder ins Bett genässt hat, bekam ich den Ärger“, erklärt der 33-Jährige. Einmal habe ihn seine Mutter zur Strafe unter die eiskalte Dusche gestellt. „Ich wurde als Kind zwischen meinen Eltern und Großeltern hin- und hergeschoben“, sagt er mehrfach. Ab dem sechsten Lebensjahr habe er schließlich komplett bei den Großeltern gelebt.
Das zerrüttete Elternhaus bleibt nicht ohne Folgen. Schon als Kind sei er aggressiv gegenüber Gleichaltrigen gewesen, sagt der Landwirt, der als junger Mann schließlich einen Hof mit 140 Tieren und hundert Hektar Grünland erbt. Probleme gibt es aber auch hier, vor allem, weil das Geld fehlt. Um sich über Wasser zu halten, arbeitet der Hofbesitzer nebenbei in einem Sägewerk und als Hausmeister. Hinzu kommen persönliche Schicksalsschläge: Die Eltern lassen sich scheiden, der Vater verfällt dem Alkohol. Als sich die Ex-Freundin im Jahre 2008 trennt, denkt er erstmals an Selbstmord. „Sind die Suizidgedanken nochmals vorgekommen?“, fragt die Richterin. „Nein“, antwortet der Beklagte. „Nur jetzt.“
Für eine kurze Zeit scheint es, als wende sich alles zum Guten. Der Angeklagte lernt eine neue Frau kennen, die Alessio – damals noch ein Säugling – mit in die Beziehung bringt. „Er war für mich wie ein Sohn“, sagt der Angeklagte und kämpft mit den Tränen. Später kommt Emilia zur Welt, ein kleines Familienglück, wie es scheint. Doch schon bald tauchen neue Probleme auf. Seine Partnerin, sagt der Angeklagte, habe ihm gestanden vom eigenen Vater vergewaltigt worden zu sein. „Wie soll man mit so etwas umgehen?“ Dazu Eifersucht und der Dauerstress auf dem Hof. Als mehrere Tiere an einem Virus erkranken und die Haupteinnahmequelle zu versiegen droht, weiß der Mann nicht mehr weiter. „Da bin ich dann schroff gewesen“, sagt er – verbal. „Geschlagen habe ich Alessio nie.“
Doch woher kommen dann die Verletzungen, die Ärzte bei Alessio immer wieder feststellen? „Der Kleine hatte öfter blaue Flecken. Er war ein Tölpel.“ Oft sei er gefallen, einmal sogar vom Traktor. Der 33-Jährige gesteht, Tochter Emilia einmal geschüttelt zu haben. „Aber nur, weil sie nicht mehr geatmet hat. Ich dachte, das macht man so.“ Die Eltern sind mit ihrem Leben heillos überfordert, was auch dem Jugendamt nicht entgeht. Es ordnet regelmäßige Kinderarztbesuche an und stellt Helfer zur Seite – nicht genug, wie Kritiker später bemängeln (siehe Infobox).
Den letzten Tag in Alessios Leben schildert sein Stiefvater so: Er findet den Dreijährigen nackt im Wohnzimmer. Offenbar hat er eingenässt, sich danach selbst die Kleidung ausgezogen und versucht die Treppe hochzulaufen, von der er dann stürzte. „Ich habe ihn vor der Treppe gefunden, zusammengekrümmt und mit blauen Flecken.“ In diesem Moment gerät der Angeklagte in Panik, schlägt Alessio zwei- bis dreimal in den Bauch. Warum? Schweigen. Im Gerichtssaal kämpft der Angeklagte mit den Tränen. „Das frage ich mich auch jeden Tag“, sagt er schließlich mit zittriger Stimme.
Nach den Schlägen klagt Alessio über starke Bauchschmerzen. „Er hat immer Aua gerufen“, sagt der Angeklagte. Wie Verbindungsauswertungen zeigen, ruft er mehrfach Verwandte an, sucht Rat. Schließlich fährt er Alessio selbst zum Kinderarzt, wo der Dreijährige daraufhin stirbt. Nach seiner Festnahme zittert der Angeklagte am ganzen Körper, sagt immer wieder „Ich hab nichts gemacht“, wie der diensthabende Polizist im Zeugenstand schildert. Erst später revidiert der Stiefvater seine Aussage.
Als die Verhandlung in Freiburg nach drei Stunden unterbrochen wird, sind viele Zuhörer sprachlos. „Ich bin hin- und hergerissen und weiß nicht, was ich glauben soll“, sagt ein älterer Mann. Andere unterhalten sich darüber, ob eine schwierige Kindheit die tödlichen Schläge erklärt, geschweige denn rechtfertigt. Ein anderer Zuhörer hat für sich das Urteil schon gefällt: „Dreckskerl“, tuschelt er seiner Nachbarin zu.
Die Verhandlung wird fortgesetzt; ein Urteil ist frühestens Mitte Oktober zu erwarten.

Hintergrund

Chronik

Juli 2013: Alessio, damals zwei Jahre alt, wird zum ersten Mal in der Uniklinik Freiburg behandelt. Die Ärzte setzen sich mit dem Kinderschutzzentrum in Verbindung, weil sie Misshandlungen vermuten. Das Jugendamt leitet daraufhin ein Kinderschutzverfahren ein.
Juli 2014: Erneute Einlieferung in die Klinik. Alessios Körper ist mit blauen Flecken übersät. Außerdem diagnostizieren die Ärzte Einblutungen ins Gehirn und einen Bluterguss am Hodensack. Sie stellen daraufhin Anzeige gegen Unbekannt und fordern das Jugendamt auf, Alessio nicht in die Familie zurückkehren zu lassen.
August 2014: Die Kinder und ihre Mutter werden vom Vater getrennt. Das Jugendamt ordnet an, dass Alessio alle 14 Tage vom Kinderarzt kontrolliert werden muss. Die Ärzte geben später an, das Jugendamt explizit gewarnt zu haben.
Oktober 2014: Mit Zustimmung des Jugendamts lebt die Familie wieder zusammen, aber unter Auflagen: Familientherapie, Mutter-Kind-Kur, weitere regelmäßige Kontrollen durch den Kinderarzt (die letzte erfolgt Ende Dezember).
Januar 2015: Alessio stirbt beim Kinderarzt. Der Stiefvater hat ihn selbst dorthin gebracht. (prz)

Hintergrund

Jugendamt in der Kritik

Schon kurz nach Alessios Tod gerät das Freiburger Jugendamt in die Defensive. Die Ärzte der Uniklinik werfen der Behörde vor, nicht entschieden genug gehandelt zu haben. Auch die zuständige Landrätin Dorothea Störr-Ritter vom Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald muss sich kritische Fragen gefallen lassen. Auf einer Pressekonferenz sagt sie: „Man kann Eltern das Kind nicht einfach wegnehmen.“ Ende Januar spricht der Kreistag der Landrätin das Vertrauen aus. Die Frage, warum Alessio trotz aller Warnungen nicht in eine Pflegefamilie kam, bleibt jedoch. Im Auftrag des Landratsamtes Breisgau-Hochschwarzwald soll das Deutsche Jugendinstitut nun herausfinden, wie sich derartige Vorfälle in Zukunft verhindern lassen. (prz)

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