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Befristete Jobs: Jobmotor oder Arbeitsmarkt-Skandal?

dpa
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26. Januar 2018
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Fast jeder zwölfte Arbeitnehmer in Deutschland hatte 2014 einen befristeten Job, davon ist nach Angaben des Forschungsinstituts IAB knapp die Hälfte sachgrundlos.

Fast jeder zwölfte Arbeitnehmer in Deutschland hatte 2014 einen befristeten Job, davon ist nach Angaben des Forschungsinstituts IAB knapp die Hälfte sachgrundlos. ©dpa - Jens Wolf/Symbolbild

Klingt sperrig, betrifft aber Millionen von Menschen in Deutschland: die «sachgrundlose Befristung». Arbeitgeber können Arbeitnehmer ohne jeden Grund befristet einstellen.

Gewerkschaften verdammen das als «Skandal» und ein «Massenphänomen». Die Arbeitgeber dagegen sprechen von einem «Jobmotor», der Unternehmen flexibel auf Auftragslagen reagieren lässt.

Auf jeden Fall gehört das Thema zu den größten Knackpunkten in den Koalitionsverhandlungen. Die SPD will befristete Jobs generell einschränken und die sachgrundlose Befristung ganz abschaffen. Es ist eines der «essenziellen Projekte», bei denen die SPD nun Fortschritte fordert. Weite Teile der Union lehnen das aber ab.

Zu den Fakten: Fast jeder zwölfte Arbeitnehmer hatte 2014 einen befristeten Job, davon ist nach Angaben des Forschungsinstituts IAB knapp die Hälfte sachgrundlos. Es gibt drei Arten von Befristungen ohne Sachgrund: Befristung bis zu zwei Jahren, Befristung in den ersten vier Jahren nach Gründung eines Unternehmens und Befristung bei über 52-jährigen zuvor Arbeitslosen. Ein legitimer Grund kann etwa eine Vertretungsregelung sein.

2,8 Millionen befristet beschäftigte in Deutschland

2,8 Millionen Arbeitnehmer waren 2016 in Deutschland nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes befristet beschäftigt. Während ihr Anteil an der Gesamtzahl der abhängig Beschäftigten im vergangenen Jahr relativ stabil war, stieg der Anteil bei jungen Arbeitnehmern zwischen 25 und 34 Jahren deutlich an: von 9,6 Prozent vor 20 Jahren über 16,6 Prozent 2006 bis auf 18,1 Prozent 2016.

Die Bundestagsabgeordnete Jutta Krellmann, Arbeitsmarktexpertin der Linken, will den «Befristungsirrsinn» beenden. «Gerade bei jüngeren Menschen sorgen Befristungen dafür, dass sie elementare Dinge des Lebens nicht planen können, wie etwa eine Familiengründung», führt sie aus. «Versuchen Sie mal mit einem befristeten Arbeitsvertrag eine Wohnung anzumieten, einen Hausbau oder Wohneigentum zu finanzieren.» Hinzu komme ein höheres Armutsrisiko. Ihre Partei will sachgrundlose Befristungen verbieten, Sachgründe reduzieren und Kettenbefristungen verhindern.

Was Befristungen bedeuten, hat Lehrer Uwe Feder selbst erlebt. Der Pädagoge absolvierte in den 1980er Jahren das erste Staatsexamen, entschloss sich aber erst 2011, mehr als zwei Jahrzehnte später, zum Gang an die Schule. Er begann ein Referendariat am Gymnasium, scheiterte aber am zweiten Staatsexamen. «Was die jetzt in der Oberstufe machen, das hatten wir nicht im Studium», sagt der heute 57-Jährige.

Von Vertag zu Vertrag gehangelt

Statt entsprechend seinem Studium Biologie und Sport am Gymnasium zu unterrichten, arbeitete Feder vor allem an Grundschulen in Hessen und hangelte sich von einem befristeten Vertrag zum nächsten. «Das hat schon was mit mir gemacht», sagt Feder. «Sich immer zu fragen: Wie ist das jetzt mit dem Vertrag? Kommt der? Ist er schon da?» Sich immer wieder auf ein neues Kollegium, Schüler und Eltern einstellen zu müssen, sei «unglaublich anstrengend» gewesen. Manchmal sei die Ferienzeit bezahlt gewesen - manchmal nicht. Die Befristungen hätten immer einen Sachgrund gehabt, oft etwa die Elternzeitvertretung. Keine Seltenheit in Bereichen mit vielen weiblichen Beschäftigten, wie die IAB-Studie feststellt.

Feder selbst kehrt der Schule den Rücken und macht sich im Februar im therapeutischen Bereich selbstständig. Ein Grund mehr für ihn, über das Thema zu sprechen, zumal junge Kollegen unter großem Druck stünden. «Die halten alle natürlich den Mund, weil sie denken, die kriegen einen Vermerk in ihrer Akte», meint er.

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Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) spricht von «existenzieller Unsicherheit». Nach einigen Jahren würden Kettenverträge oft nicht mehr verlängert, weil Arbeitgeber fürchteten, dass die Betroffenen auf Entfristung klagen.

Verdi hält Befristungen für verzichtbar

Bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hält man sachgrundlose Befristungen generell für verzichtbar - selbst bei konjunkturellen Schwankungen. Wenn Unternehmen in tatsächlichen Wirtschaftsflauten Entlassungen erwägen würden, könnten sie auch eine ordentliche Kündigung aus betriebsbedingten Gründen aussprechen, sagt Sprecherin Daniela Milutin. «Insbesondere durch die sachgrundlose Befristung wird aber das unternehmerische Risiko einseitig auf die Arbeitnehmer verlagert.» Das Kündigungsschutzgesetz werde so umgangen, weil Arbeitnehmer Kündigungen nicht mehr vor Gericht anfechten könnten. Dauer und Anzahl der Befristungen müssten stärker begrenzt werden.

Die Arbeitgeber sehen das naturgemäß völlig anders. «Befristete Arbeitsverhältnisse sind ein unverzichtbarer Jobmotor», sagt Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer. Und er warnt vor negativen Auswirkungen auf Jobs: Die angedachte Beschränkung von befristeten Arbeitsverträgen würde Beschäftigungschancen mindern.» Befristete Jobs seien die Ausnahme und schafften für Firmen Flexibilität bei Konjunktur-Schwankungen. Und der Präsident des Industrieverbands BDI, Dieter Kempf, sagt, wenn die Politik den Abschluss befristeter Verträge erschwere, könnten Unternehmen bei Bedarf schlechter ihre Produktionskapazität erhöhen.

Beispiel ebm-papst: Der Maschinenbauer baut Ventilatoren und Antriebstechnik. Alleine in der Zentrale im baden-württembergischen Mulfingen arbeiten 3500 Beschäftigte. Das Unternehmen nutzt das Instrument der sachgrundlosen Befristung seit vielen Jahren. «Hierdurch ermöglichen wir Flexibilität in der Produktion, um auf Auslastungsgrade reagieren zu können», sagt der Vorsitzende der Geschäftsführung, Stefan Brandl.

Dadurch könne die Firma außerdem Mitarbeiter kennenlernen - mit dem Ziel, sie in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu übernehmen. Durchschnittlich arbeiten in der Firmenzentrale rund 200 Mitarbeiter mit Befristungen. 95 Prozent der Betroffenen würden in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen. Brandl: «Ohne die Befristungen würden wir deutlich an Flexibilität und Wettbewerbsfähigkeit verlieren.»

Können befristete Jobs Sprungbrett sein?

Das sieht auch Enzo Weber so. Zwar seien Probleme nicht von der Hand zu weisen - aber: «Befristete Jobs sind oft Sprungbrett in eine dauerhafte Beschäftigung», sagt Weber, der den Forschungsbereich «Prognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen» des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg leitet. Ein Verbot der sachgrundlosen Befristung könne außerdem negative Effekte haben. «Arbeitgeber könnten weniger neu einstellen, weil sie unsicher sind, wie sich ihr Bedarf an Arbeitskräften entwickelt.» Außerdem könne es zu Ausweicheffekten kommen, wie mehr Leiharbeit. «Die Gefahr ist, bei einem Verbot der sachgrundlosen Befristung das Kinde mit dem Bade auszuschütten.»

Weber rät den Koalitions-Unterhändlern zu gezielten Maßnahmen. «Zum einen könnte man Arbeitgebern Anreize setzen, wenn sie Arbeitnehmer, die schon mehrere Befristungen in anderen Betrieben hinter sich haben, unbefristet einstellen - so könnten für die ersten Jahre die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung erlassen werden.» Zum anderen komme es auf eine Beratung von Arbeitnehmern an, die mehrere befristete Jobs nacheinander hätten.

Die SPD will auch solche Kettenbefristungen begrenzen. Bei befristeten Jobs ohne Sachgrund sind immer neue Verträge möglich - das kann zu Extremfällen führen. Ein besonderes Lied davon singen kann Anja Helffenstein. Die 45-jährige Mutter von zwei Kindern hält in Deutschland vermutlich einen Rekord: Die Post-Zustellerin hatte in Mecklenburg-Vorpommern über 17 Jahre lang insgesamt 88 Zeitarbeitsverträge - bis sie die Deutsche Post verklagte und 2014 eine Festanstellung erzwang.

Inzwischen hat Anja Helffenstein die Post verlassen, aus gesundheitlichen Gründen. Rückblickend sei das Schlimmste vor allem die Ungewissheit gewesen, erzählt sie. «Das geht einfach nicht, man kann nicht planen, man kann nichts machen, man hängt in der Luft. Das ist unwürdig.» Und sie sagt: «Als ich gehört habe, dass sich darum gekümmert werden soll, habe ich gedacht: Es wird Zeit, dass etwas gemacht wird.»

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