Brüssel

Bye bye Britain: Was wird nun aus Europa?

dpa
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24. Juni 2016
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Welche Auswirkungen wird der Brexit für die Europäische Union haben?

Welche Auswirkungen wird der Brexit für die Europäische Union haben? ©dpa - Patrick Seeger

Genau 43 Jahre, sechs Monate und 23 Tage war Großbritannien bis zu diesem Freitag Mitglied der Europäischen Union. Und, wenn man ehrlich ist: Es war zwischen den Leuten auf der Insel und jenen auf dem Kontinent immer schon ein Wechselbad der Gefühle.

Zwischen großer Freude und enormem Verdruss war alles drin. An diesem Freitag nun, nach dem Briten-Beschluss für den Brexit, ist auf dem Festland die Gefühlslage klar: Katerstimmung überall. Auf englisch: «Hangover». Mit der Aussicht auf: Fortsetzung folgt.

Mit einer Mehrheit von 52 zu 48 Prozent in der Volksabstimmung haben die Briten nicht nur ihren Austritt aus der Europäischen Union beschlossen, den ersten eines Landes in der EU-Geschichte überhaupt. Der Abschied der Atommacht, der zweitgrößten Volkswirtschaft, der Nummer drei bei der Bevölkerungszahl versetzt der EU als Ganzes einen ziemlichen Schlag. Ohne Briten wird sie international erheblich an Bedeutung verlieren.

Den Titel als wirtschaftsstärkster Staatenblock der Welt dürfen die Europäer bis auf Weiteres behalten. Aber künftig wird in Brüssel, Berlin oder sonstwo niemand mehr behaupten können, immerhin eine halbe Milliarde Menschen zu vertreten (selbst wenn das bei bald 7,5 Milliarden weltweit ohnehin nicht mehr so viel ist). Künftig werden es 444 Millionen EU-Bürger sein. Das lässt sich beim besten Willen nicht aufrunden. Auch das geostrategische Gewicht wird weniger.

Wie geht es nun weiter mit der Union, wenn sie künftig, nach dem Scheidungsprozess mit den Briten, in etwas mehr als zwei Jahren vielleicht, nur noch aus 27 Mitgliedern besteht? Arbeitet die EU dann erst recht enger zusammen? Oder beginnt nun, wie Skeptiker nach all den Abgesängen auf Europa schon länger befürchten, tatsächlich der Zerfall?

Frankreichs Premierminister Manuel Valls warnte im Februar: «Der Austritt Großbritanniens würde einen Schock bedeuten, dessen Konsequenzen für Europa man sich nur schwer vorstellen kann.» An Selbstzweifeln hat es den Europäern selten gefehlt.

Deutschlands Rolle?

Und was wird künftig Deutschlands Rolle sein? Noch dominanter, wenn jetzt die Briten weg sind, die ja nicht nur Partner waren, sondern auch Gegengewicht? Oder schwächer, weil andere, die von den Deutschen schon länger genervt sind, im Süden oder im Osten, an Einfluss gewinnen? Und was wird nun aus Angela Merkel, die für manche schon längst De-Facto-Premierministerin Europas ist, für andere aber auch einfach nur noch Hassfigur?

Für ein engeres Zusammenrücken spricht, dass der ewige Skeptiker im europäischen Bunde sich nun verabschiedet: Großbritannien hat auf den Sonderstatus seit dem Beitrittsjahr 1973 immer schon Wert gelegt, sich Vorzüge wie den «Briten-Rabatt» erstritten. Aus der Eurozone und dem normalerweise grenzkontrollfreien Schengen-Raum blieben die Briten von vornherein draußen. Die EU-Mitgliedschaft war für viele auf der Insel immer schon eine Kosten-Nutzen-Rechnung.
Der Fraktionschef der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), sieht im Brexit deshalb eine Absage an die Extrawurst: «Das heißt dann: Schluss mit der Rosinenpickerei, Schluss mit Sonderrollen.» Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD) fürchtet hingegen: «Jetzt gibt es ein Rezept für Regierungen, die gerne etwas für sich durchsetzen möchten auf Kosten der anderen.»

Wie auch immer: Nach dem Sieg der EU-Gegner sind sich die Europäer weitgehend einig darin, dass ein «Weiter so» oder noch mehr Integrationsschritte nicht angebracht wären. Die Vorbehalte gegen die EU, die die Briten zum Ausdruck gebracht haben, treiben die Leute auch anderswo um. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sagt: «Wir können als Antwort auf einen Brexit nicht einfach mehr Integration fordern. Das wäre plump. Viele würden zu recht fragen, ob wir Politiker immer noch nicht verstanden haben.»

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Derlei Einsichten haben auch die Brüsseler Chefetagen erreicht: Der Präsident des Europäischen Rats, Donald Tusk, meint: «Besessen, wie wir waren von der Idee sofortiger und völliger Integration, haben wir übersehen, dass gewöhnliche Leute unseren Euro-Enthusiasmus nicht teilen.» Wichtiger als Grundsatzdebatten wären jetzt wohl praktische Fortschritte in den verschiedenen Krisengebieten - auch um zu beweisen, dass die EU trotz allem funktioniert.

Rechtspopulistische Bewegungen

Unabhängig davon werden die rechtspopulistischen Bewegungen - die Front National (FN) in Frankreich, die FPÖ in Österreich, die AfD in Deutschland - jubilieren. Alle können nun darauf verweisen, dass eine EU-Mitgliedschaft umkehrbar ist. Schwierig, den Geist der Spaltung wieder in die Flasche zu bekommen. Mit einigem Abstand könnte es auch in anderen Ländern Volksabstimmungen geben - mit berechtigter Aussicht auf einen «Hangover 2» oder «Hangover3».
Doch der Brexit wird nicht nur den Zweiflern am europäischen Projekt Auftrieb geben. Er verschiebt auch die Machtverhältnisse. Paris und Berlin werden relativ gesehen an Einfluss gewinnen. So gern Deutschland und Frankreichs den Schulterschluss zelebrieren: Merkel geht ein wichtiger Verbündeter verloren. Deutschland und Großbritannien pochten in Brüssel gern auf die Wahrung nationaler Entscheidungsgewalt, die Begrenzung europäischer Ausgaben, eine liberalere Wirtschaftspolitik.

Britanniens Exit wird auch zu Machtverschiebungen auf der internationalen Bühne führen. Zu den Gewinnern könnte die Nato gehören. Europas zweite (auch nuklear bewaffnete) Militärmacht neben Frankreich geht der EU verloren, dem westlichen Verteidigungsbündnis bleibt sie erhalten. Die im Vergleich eher kümmerliche europäische Sicherheitspolitik wird wohl noch weiter in den Schatten des mächtigen Verteidigungsbündnisses rücken.

Gleichzeitig wird das diplomatische Schwergewicht EU auf der Weltbühne leichter daherkommen. Mit Großbritannien verliert es nicht nur ein Land mit Ständigem Sitz im UN-Sicherheitsrat, sondern auch eine weltweit gut vernetzte ehemalige Kolonialmacht. Londons internationale Gesprächspartnern haben es künftig mit einem Land zu tun, das nur noch für sich selber spricht - und nicht manchmal auch für 27 Andere.

«In is in, out is out.»

Hauptanliegen der Briten in den Trennungsgesprächen wird sein, den Zugang zum Binnenmarkt zu sichern, dem «Kronjuwel» der europäischen Integration. Frankreichs Wirtschaftsminister Emmanuel Macron und andere haben allerdings schon deutlich gemacht, dass London nicht mit einer einfachen Lösung rechnen kann. «Entweder man ist drinnen oder draußen», sagt Macron. Schäuble formuliert fast wortgleich: «In is in, out is out.»

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker drohte sogar: «Der Deserteur wird nicht mit offenen Armen empfangen.» Soll heißen: Scheiden tut weh, und das muss auch so sein. Allein schon, um Nachahmer abzuschrecken. Allerdings sind beide Seiten wirtschaftlich so eng miteinander verbandelt, dass die EU damit nicht nur den Briten, sondern auch sich selbst ins Fleisch schneiden würde.

Politisch hätte eine «schmutzige Trennung» vielleicht durchaus ihren Sinn, wirtschaftlich aber nicht. Das gehört zu den vielen spannenden Fragen der nächsten Zeit: Wer sich in dem Scheidungsprozess nun durchsetzen wird - die, die ein Exempel statuieren wollen, oder die, die ein «Gentlemen's Agreement» anstreben.

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