Berlin

Ein fast historischer Tag - wie Jamaika scheiterte

dpa
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20. November 2017
Angela Merkel, Horst Seehofer und weitere Unionspolitiker treten nach Abbruch der Sondierungen in Berlin vor die Presse.

Angela Merkel, Horst Seehofer und weitere Unionspolitiker treten nach Abbruch der Sondierungen in Berlin vor die Presse. ©dpa - Bernd von Jutrczenka

Stundenlang ringen die Jamaika-Unterhändler um eine Einigung, um kurz vor Mitternacht aber lässt die FDP die Verhandlungen platzen - und sorgt für Entsetzen und Schockstarre. Das Protokoll eines ganz besonderen Sonntags in Berlin.

10.40 Uhr: Die ersten Unterhändler treffen ein. Die Flaggen vor der Landesvertretung Baden-Württembergs am Berliner Tiergarten wehen auf Halbmast - es ist Volkstrauertag.

10.53 Uhr: Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner sagt: «Es ist an der Zeit, dass wir Entscheidungen treffen.» Seit vier Wochen sondieren CDU, CSU, Grüne und FDP.

10.54 Uhr: FDP-Generalsekretärin Nicola Beer sagt auf die Frage eines Reporters, ob eine Einigung gelingen kann: «Ja, wenn alle mutig genug sind.»

11.07 Uhr: FDP-Chef Christian Lindner kommt an, mit einer «Bild am Sonntag» in der Hand. Der Grünen-Unterhändler Jürgen Trittin hat dem Blatt gesagt: «Wir werden nicht akzeptieren, dass Menschen, denen bereits ein niedrigerer Schutzstatus per Gesetz zugewiesen wurde, auch noch vom Familiennachzug ausgeschlossen werden. Das ist unmenschlich.» Das kommt bei vielen in der FDP nicht gut an.

11.24 Uhr: Kanzlerin Angela Merkel trifft ein und geht rein, ohne ein Statement abzugeben - und begleitet von Pfiffen und Buhrufen von Kohle-Beschäftigten aus der Lausitz, die um ihre Jobs fürchten.

11.30 Uhr: Die Sondierungen werden fortgesetzt. Die Lage ist verfahren. In Teilnehmerkreisen heißt es, immer wieder seien tatsächliche oder angebliche Kompromissvorschläge gemacht worden, die dann zum Teil wieder in Frage gestellt werden. Zu den Hauptstreitpunkten gehören Migration, Klimaschutz und Finanzen.

13.45 Uhr: Ein ums andere Mal wechseln die Formate in den Sondierungs-Verhandlungen. Die sechs Chef-Unterhändler tagen, dann wieder gibt es parteiinterne Beratungen. Dem Vernehmen nach haben die Grünen der CSU bei der Zuwanderung ein Kompromissangebot gemacht. Nur mit einer Einigung bei diesem Thema sei ein Gesamtpaket möglich, heißt es. Beim Thema Finanzen scheint es Fortschritte zu geben.

16.16 Uhr: Merkel ist durch bodentiefe Fenster, vor denen sich Reporter drängeln, im Foyer der Landesvertretung zu sehen. Zusammen mit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen unterhält sie sich kurz mit Grünen-Politikern. In Teilnehmerkreisen heißt es, die Chancen auf eine Einigung stünden gut.

18.00 Uhr: Die Verhandlungen gehen erneut in die Verlängerung: Vor allem die FDP hatte zuvor betont, dass man bis 18.00 Uhr zu einem Ergebnis kommen wolle.

19.10 Uhr: CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer sagt im ZDF, es gebe weiterhin in zentralen Fragen keine Einigung, vor allem bei der Migration.

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21.08 Uhr: Hessens Regierungschef Volker Bouffier sagt, er sehe trotz schwieriger Gespräche weiterhin Verständigungschancen. «Aber es steht wirklich Spitz auf Knopf.»

21.30 Uhr: Erneut tagt die «Chefrunde».

21.59 Uhr: Die Union kommt zu Beratungen zusammen im großen Saal der Landesvertretung.

22.52 Uhr: Der CSU-Politiker Hans Michelbach baut sich vor den Kameras auf und erzählt, es gebe eine Einigung auf einen Soli-Abbau bis 2021, außerdem würden die Grünen die Maghreb-Staaten als sichere Asyl-Herkunftsländer akzeptieren. Die Grünen sind auf der Palme, die CSU beteuert, Michelbach habe keine Handlungsvollmacht gehabt. Zehn Minuten später erscheint der CSU-Mann kleinlaut noch mal vor der Tür - und zieht seine Äußerungen zurück.

23.30 Uhr: Die Runde der Verhandlungsführer sitzt noch zusammen. Doch der Entschluss der FDP ist bereits gefallen. Nach Darstellung aus Verhandlungskreisen will Merkel noch weiter verhandeln - doch Lindner und Kubicki seien aufgestanden. Auch eine Pressemitteilung zum Ausstieg ist schon vorbereitet.

23.48 Uhr: Kurz vor Mitternacht platzt die Bombe: FDP-Fraktionssprecher Nils Droste teilt mit, dass sich die Liberalen aus den Gesprächen zurückziehen.

23.50 Uhr: FDP-Chef Christian Lindner tritt äußerst angespannt vor die Presse, umrahmt von den Unterhändlern seiner Partei. Es sei den vier Gesprächspartnern nicht gelungen, eine Vertrauensbasis oder eine gemeinsame Idee für die Modernisierung des Landes zu finden: «Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.» Der Grünen-Unterhändler Jürgen Trittin sagt später, als Lindner den Abbruch verkündet habe, hätten Grüne, CDU und CSU gemeinsam vor den Bildschirmen gestanden und «schockiert über diesen Abgang» zugesehen.

00.16 Uhr: Im Foyer stehen Politiker von CDU, CSU und Grünen zusammen. Es wirkt, als stünden viele unter Schock. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt und Hessens Regierungschef Bouffier (CDU) umarmen sich.

01.00 Uhr: Angela Merkel und Horst Seehofer treten vor die Presse, umrahmt von ihren Parteifreunden. Beide sehen müde und kaputt aus. Merkel bedankt sich zuerst für die Gastfreundschaft in der baden-württembergischen Landesvertretung - «an einem wirklich, ich würde fast sagen historischen Tag.» Merkel sagt, die Union habe geglaubt, dass man auf einem Weg Richtung Einigung gewesen sei. CSU-Chef Horst Seehofer sagt, eine Einigung sei «zum Greifen nahe» gewesen.

01.30 Uhr: Das Grünen-Spitzenduo ist dran. «Ein Bündnis hätte zustande kommen können», sagte Fraktionschefin Göring-Eckardt. Union, FDP und Grüne hätten nur noch in wenigen Punkten auseinander gelegen. Parteichef Cem Özdemir sagt, die Grünen hätten bis zur letzten Sekunde die Bereitschaft gehabt, eine Koalition zu bilden. «Ein Partner hatte diese Bereitschaft nicht.» Schleswig-Holsteins Umweltminister Robert Habeck (Grüne) bringt es so auf den Punkt: «Das war Psychoterror ohne Ende. Wir brauchen jetzt alle 'ne Therapie, glaube ich.»

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