Nachruf

Helmut Kohl – Vater der Einheit und großer Polarisierer

Werner Kolhoff
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18. Juni 2017
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Helmut Kohl ist im Alter von 87 Jahren gestorben. ©dpa

Helmut Kohls Leistungen für Deutschland und Europa wurden erst spät gewürdigt – die Intellektuellen haben ihn nie akzeptiert.

Als Helmut Kohl öffentlich die Selbstbeherrschung verlor, stand ich neben ihm. Die Sicherheitsbeamten wussten nicht, dass ich Journalist war und hielten mich für einen der ihren. Am 10. Mai 1991 wartete in Halle auf dem Marktplatz eine große Menschenmenge auf den Kanzler. Viele mit Deutschland-Fähnchen. Helmut Kohl ging winkend zum Absperrgitter, wollte Hände schütteln, als die Eier flogen. Wütend wollte sich Kohl die Werfer packen. Zwei Bodyguards hielten ihn davon ab und zerrten ihn zurück. Immer wieder versuchte er sich ihrem Griff zu entwinden, um sich zu prügeln. Irgendwie gelang es, den Kanzler ins Rathaus zu bugsieren, in die Toilette. Vor dem Spiegel, ich stand hinter ihm, machte er sich sauber und brüllte: „Gies. Gies. Kommen Sie her. Was haben Sie sich dabei gedacht?“ Gerd Gies hieß damals der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. Eine ehemalige Blockflöte. Gies stammelte: „Weiß ich auch nicht, Herr Bundeskanzler…“

Kohl ließ sich nichts gefallen

Es ist eine Szene, die viel über Helmut Kohl sagt. Er ließ sich nichts gefallen. Gegner packte er bei den Hörnern. Am liebsten die Linken, denen gegenüber er ein tiefes Feindbild pflegte. Was auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Szene sagt aber auch viel über seinen Umgang mit den Politikern im Osten aus. Mit einem Federstrich hatte er im März 1990, kurz vor der ersten demokratischen Volkskammerwahl, die ehemaligen Blockparteien zur „Allianz für Deutschland“ verschmolzen und der CDU einverleibt. Nicht nur Gies, auch Angela Merkel landete so in der Union.

Der letzte und erste demokratisch gewählte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, hat sich oft darüber beklagt, wie herablassend er von Kohl behandelt wurde, etwa in den Verhandlungen über den Einheitsvertrag. Kohl war der Heilsbringer für die einen im Osten und die alles platt machende Dampfwalze für die anderen. In keiner Entscheidung war diese gegensätzliche Wahrnehmung des Kanzlers so angelegt, wie in dem von ihm gegen den Willen der Bundesbank durchgesetzten Umtauschkurs von 1:1 für die DDR-Mark. Das wollten die Menschen im Osten und Kohl wollte es, weil er wusste, dass nur so die erste gesamtdeutsche Wahl zu gewinnen war. Der Preis aber war der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft. Kohl schuf anschließend im Westen eine Art Schneeballsystem, um das neue Versprechen der blühenden Landschaften zu finanzieren. Einheit auf Pump. 1998 wurde er auch deshalb abgewählt. Aber heute ist die Einheit wirtschaftlich und sozial weitgehend vollendet. Und die Kassen sind wieder in Ordnung.

Die Einheit war die Leistung seines Lebens

Es steckt auch viel Tragik in dieser Hallenser Szene. Denn die größte Zuneigung hat Helmut Kohl stets im Osten erfahren. Historisch bleibt jener Auftritt am 19. Dezember 1989 vor der Frauenkirche in Dresden, als sie ihm zujubelten wie einem Messias, und als die Losung kippte von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“. Kohl dämpfte damals die aufkommende nationale Stimmung, wohl wissend, dass über die Einheit nicht nur hier auf den Straßen und Plätzen entschieden wurde, sondern mehr noch an den Verhandlungssälen mit den Vertretern Moskaus, Paris’, Londons und Washingtons. Neun Tage später veröffentlichte er ein „Zehn-Punkte-Programm“ für Deutschland und setzte den Zug der Wiedervereinigung in Bewegung. Er machte ein Tempo, das alles noch beschleunigte und die Skeptiker überrannte. Die Einheit Deutschlands und ihre Einbettung in Europa, die erst die Zustimmung der alten Siegermächte ermöglichte, war das Ereignis und die Leistung seines Lebens. Er wurde dafür mit Ehrungen überhäuft. Aber erst nach seiner Amtszeit.

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Diese Anerkennung hat Helmut Kohl in der Innenpolitik nie erfahren, und das ist nach 16 Jahren Kanzlerschaft erstaunlich. Aber er polarisierte von Anfang an. Die Sozialdemokraten hetzten gegen ihn, weil er Helmut Schmidt die Kanzlerschaft angeblich gestohlen hatte, zusammen mit den „Verrätern“ von der FDP. Und er hetzte gegen sie, die „Sozen“. Die Friedensbewegten lehnten ihn ab, weil er den Nato-Doppelbeschluss umsetzte. Die Gewerkschaften, weil er vom Freizeitpark Deutschland gesprochen hatte. Viele politische Leichen pflasterten seinen Weg, auch in der CDU, die er bis in die Verästelungen hinein kontrollierte. Etwa Kurt Biedenkopf, der gegen ihn 1989 zu putschen versuchte, ebenso Heiner Geißler. Zuletzt auch Wolfgang Schäuble, den er als Kronprinzen so lange vertröstete, bis 1998 die Macht für die Union verloren war.

Als "Birne" verspottet

Er ist als „Birne“ verspottet worden, wegen des Mantels der „Geschichte“ haben sie ihn verhöhnt, wegen seines Auftritts mit Ronald Reagan an den Soldatengräbern von Bitburg karikiert und wegen der „Gnade der späten Geburt“, von der er 1984 in der Knesseth sprach, kritisiert. Er war ungelenk und wirkte provinziell. Aber er war 25 Jahre CDU-Vorsitzender, 26 Jahre Bundestagsabgeordneter, 16 Jahre Kanzler. Das ist man nicht aus Zufall. Nie in dieser gewaltigen Zeit hat er so etwas wie Anerkennung oder wenigstens Respekt bei den Intellektuellen des Landes gewonnen. Aber immer alle Wahlen. Diesen Widerspruch haben sich seine Gegner nie erklären können. Das blieb Kohls Genugtuung.

Neun Jahre später, am 30. November 2000, stand ich wieder als Journalist in der Nähe Helmut Kohls, diesmal in der Buchhandlung Dussmann in Berlin und diesmal ganz legal. Der Altkanzler signierte sein „Tagebuch“ und wirkte fröhlich. Plötzlich Tumult. Ein junger Mann hatte einen mit Sahne gefüllten Windbeutel auf Kohl geworfen. „Der Pöbel ist wirklich überall“, schimpfte der und machte sich wieder sauber. Hört das nie auf? Nein, bei Helmut Kohl hat es nie aufgehört. Nicht der Hass gegen ihn, nicht die Aufregung um ihn, und auch nicht das Nachtragende, das von ihm selbst ausging.

Bitterkeit am Ende

Zuletzt wirkte er immer bitterer. Man spürte, wie sehr der Schicksalsschlag des Selbstmordes seiner Frau Hannelore im Sommer 2001 ihn getroffen hatte und mehr noch der öffentliche Vorwurf, er habe sie im Stich gelassen. Er alterte rapide. Man sah dann, wie die neue Liebe zu der viel jüngeren Maike Richter ihn kurz wieder aufblühen ließ. Für die er sich mit seinen Söhnen überwarf. Und dann 2008 der Sturz, die Kopfverletzung, der Rollstuhl. Die letzten Schlagzeilen machte er mit bösen Bemerkungen über Angela Merkel und andere. Und mit seiner erfolgreichen Klage gegen die journalistischen „Verräter“, die seine Tiraden unautorisiert veröffentlicht hatten. Waren das schöne Jahre am Ende?

2000, als sein „Tagebuch“ erschien, war das Jahr der CDU-Parteispendenaffäre. Helmut Kohl hatte 1,5 bis zwei Millionen DM von anonymen Spendern entgegen genommen, ein klarer und schwerer Verstoß gegen das Parteiengesetz. Und er weigerte sich, die Namen der Spender zu nennen. Weil er ihnen sein Ehrenwort gegeben habe. Angela Merkel, die zuletzt immer wieder seine Nähe, ja seinen Segen suchte, war damals die erste, die sich von Helmut Kohl lossagte, mit einem Zeitungsbeitrag. „Die Partei muss laufen lernen, auch ohne ihr altes Schlachtross“. Es war der eigentliche Beginn ihrer Karriere als CDU-Chefin und später Kanzlerin. Kohl nahm es ungerührt hin und verzichtete trotzig auf den CDU-Ehrenvorsitz. Den Schaden der Partei bezahlte er. Sieben Million Euro brachte eine von ihm initiierte Spendenaktion auf. Aber die Namen nannte er trotzdem nicht. Wohl nicht einmal auf dem Sterbebett.

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