Merkels Kehrtwende
Auf den ersten Blick war es ein taktisch extrem kluger Zug, in einer launigen Talkrunde die Entscheidung über die »Ehe für alle« als Gewissensfrage zu deklarieren und es damit den Unionsabgeordneten freizustellen, ob sie zustimmen oder ablehnen. Merkel hat gemerkt, dass mit der bislang blockierenden Haltung der Unionsmehrheit im Wahlkampf kein Punkt zu machen ist. Also ist sie einen Schritt zur Seite getreten. Damit wird sie, die großzügige Kanzlerin, politisch unbeschädigt bleiben – wie auch immer ihre Fraktion am Ende entscheidet. Hinzu kommt, dass Merkel nicht verborgen geblieben ist, dass alle potenziellen Partner angekündigt haben, ohne die »Ehe für alle« nach der Bundestagswahl keinen Koalitionsvertrag unterschreiben zu wollen. So nimmt sie dem politischen Gegner die Munition. Was alle vier Jahre System hat bei Merkel.
Wer nun in Jubelarien über das große Geschick der Kanzlerin einstimmt, übersieht die negativen Begleiterscheinungen: SPD und Opposition haben den Ball prompt aufgenommen und wollen noch in dieser Woche eine Abstimmung erzwingen. Damit hat Merkel augenscheinlich nicht gerechnet. Denn vereinbart war zwischen Union und SPD anderes. Kanzlerkandidat Schulz wittert seine Chance, einen programmatischen Sieg zu erringen. Und es wäre einer für die Genossen, aber auch für die Opposition, falls der Bundestag den bereits vorliegenden Gesetzwurf beschließen sollte.
Übersehen hat Merkel zudem, dass sie die Parteifreunde im Handstreich desavouiert hat, die gegen die Ehe für alle sind oder zumindest Zweifel daran haben. Nachdem man das Vorhaben doch erst vor Kurzem wieder einmal im Parlament abgeblockt hatte. Wer Merkel vorwirft, die Union kernlos gemacht zu haben, wird sich drei Monate vor der Wahl erneut bestätigt fühlen. Für so eine Parteichefin macht derjenige dann sicherlich gerne Wahlkampf, oder?