Warum sich Ostdeutsche seltener impfen lassen
Dass die sich überhaupt noch selber im Spiegel anschauen können“: Die Polizei ist für viele als „Spaziergänger“ getarnte Kritiker der Corona-Politik an diesem Montagabend Anfang Januar in Dresden der Feind. Dutzende Polizisten haben im sonst beschaulichen Stadtteil Strehlen eine Straße von beiden Seiten mit Polizeitransportern abgeriegelt. Breitbeinig stehen sie davor und fordern Hinzukommende knapp auf, weiterzugehen. Aus der Straße heraus darf nur, wer seine Personalien angibt. Versammlungen von mehr als zehn Personen sind derzeit in Sachsen verboten und generell nur mit Maske und Abstand erlaubt.
Ein AfD-naher Aktivist ist durchs Gebüsch entkommen. „Das erinnert mich an die Wendezeit“, sagt der Mittfünfziger, durch die Ereignisse noch sichtlich aufgeputscht, als er im Auto zum nächsten Demonstrationsort fährt. Auch damals habe er einer übermächtigen Staatsmacht gegenübergestanden.
„Wie in der DDR“
Unterwegs berichtet er, dass er nichts gegen Impfungen habe. Er selbst sei vielfach geimpft. Schließlich habe es in der DDR eine Impfpflicht gegeben. Über die esoterisch bewegten, Impfungen grundsätzlich ablehnenden „Ökotanten „in „selbstgestrickten Ringelsöckchen“, die an den „Spaziergängen“ teilnehmen, schüttelt er den Kopf. Sich selbst bezeichnet er als „Wissenschaftsgläubigen“, den nur die Kritik an den Corona-Maßnahmen mit den Esoterikern verbinde. Das Verschweigen der aus seiner Sicht erwiesenen Gefährlichkeit der Impfung – Fehlgeburten, gar Todesfälle seien auch in Dresdner Spitälern belegt – könne er nicht länger hinnehmen. „Ich habe kein Vertrauen mehr in den Staat oder die Medien. Das ist wie in der DDR.“ Und wie damals als junger Mann sehe er sich auch heute in der Pflicht, auf die Straße zu gehen.
Im Stadtteil Laubegast hatten die „Spaziergänger“ an diesem Abend mehr Glück als in Strehlen. Die Polizei hat von dieser Demonstration nichts mitbekommen – oder schlicht nicht die Kräfte, die vielen über Telegram-Gruppen organisierten Versammlungen aufzulösen. „Das haben die Söldner nicht verhindern können“, meint ein Mann mit schwarzer Kappe und grauem Dreitagebart triumphierend. In der Reichsbürger-Szene, welche die Bundesrepublik nicht als legitimen Staat anerkennt, ist das eine übliche Bezeichnung für die Polizei. „Es ist doch klar, dass die Impfung das deutsche Volk unfruchtbar machen soll“, so legt der etwa 60-Jährige nach. Ein junger Mann nickt. „Erst Virus züchten und dann Impfstoffe verkaufen: Die Pharmalobby hat das perfekte Geschäftsmodell gefunden.“
Einer Frau in mittleren Jahren ist die unverstellte Radikalität etwas peinlich. Natürlich sei das Virus für manche gefährlich, für die meisten aber eben nicht. „Es sollten sich nur alte und gefährdete Leute impfen lassen“, sagt sie schüchtern. Sie selbst fürchtet sich vor den Nebenwirkungen. Eine Bekannte leide seit der Impfung stark am Herzen.
Maximilian Krah – Max rufen ihn seine anwesenden Parteifreunde jovial – ist von Strehlen ebenfalls nach Laubegast geeilt. Eigentlich sitzt der 44-jährige AfD-Politiker als Europaabgeordneter im fernen Brüssel. An diesem Montag lässt es sich der Jurist aber nicht nehmen, zu den „Spaziergängern“ hinzuzustoßen. Mit Jackett und Burberry-Schal sticht er unter all den Funktionsjacken-Trägern heraus.
„Gemacht haben wir als AfD diese Demos nicht. Aber natürlich versuchen wir, den Protest politisch aufzunehmen“, sagt der gebürtige Sachse. Das liegt nur nahe. Sachsen ist schließlich eine AfD-Hochburg – und deutsches Schlusslicht bei der Impfquote. Nur 60,8 Prozent sind Anfang Januar mindestens zweifach geimpft. Warum aber liegt Sachsen, liegen die meisten ostdeutschen Länder hinter den westdeutschen zurück?
Krah relativiert. Prinzipielle Impfskepsis von alternativmedizinisch Orientierten sei eigentlich ein westdeutsches Phänomen. Das gebe es im Osten in dem Maße nicht. Der Osten sei kein einheitlicher Landstrich. Das norddeutsch geprägte Mecklenburg-Vorpommern etwa sei mentalitätsmäßig das „westdeutscheste“ der östlichen Bundesländer. Tatsächlich liegt die Impfquote dort mit 70,1 Prozent sogar noch über der Baden-Württembergs. Anders stelle sich die Lage im Süden dar, also in Sachsen und Thüringen. Dort herrsche – Wartburg, Weimar, Dresden – starkes kulturelles Selbstbewusstsein.
Seit Jahrhunderten gebe es hier zudem anders als im erst spät akademisierten Brandenburg und in Sachsen- Anhalt ein gebildetes Bürgertum, das gewohnt sei, selber zu denken. Dieses Milieu leugne nicht die Gefährlichkeit des Virus für bestimmte Gruppen. Aber die Maßnahmen und der Daueralarmismus der Regierung beschädigten, so Krah, bürgerliche Freiheit und Volkswirtschaft in einem. Außerdem sei die Impfung viel zu wenig hinsichtlich der Nebenwirkungen erforscht.
Deshalb fielen die Leute in den Achtziger-Jahre-Modus zurück. Das in der DDR-Zeit entstandene Misstrauen gegenüber der Obrigkeit melde sich wieder. Er verweist auf ein anarchistisches Gen der Sachsen und Thüringer. Impflücke, das ist für den AfD-Mann Krah die Summe aus Staatsskepsis und gesundem Menschenverstand.
Aus Krise Kapital schlagen
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums versucht sich Franziska Schubert einen Reim auf die niedrige Impfquote zu machen. Die 39-Jährige ist Fraktionschefin der Grünen im sächsischen Landtag. Ihre Partei stellt zusammen mit CDU und SPD die Regierung des Freistaats. In ihrer Lesart ist die niedrige Impfquote auch Folge mangelnder politischer Bildung und der Toleranz gegenüber rechten Strukturen.
„Über Jahrzehnte konnten sich rechte Netzwerke ungestört im Osten ausbreiten“, sagt sie mit moderatem sächsischem Zungenschlag. Erst Ende vergangenen Jahres habe Sachsen ein Konzept gegen Rechtsextremismus verabschiedet. Die Folgen seien jetzt zu besichtigen. „Wo sich der Staat zurückgezogen hat, wo Jugendarbeit abgebaut wurde, wo man Rechte gewähren ließ, ist der Widerstand gegen die Impfung hoch.“ Das gelte für Sachsen, aber auch für Thüringen sowie Teile Brandenburgs und Sachsen-Anhalts.
Sie will dabei nicht alle Demonstranten über einen Kamm scheren und zu Rechtsextremisten erklären. „Die Ungeimpften sind keine homogene Gruppe“, sagt sie. Da seien die, welche die Impffrage zur Systemfrage machten. Manche neigen gar zur Gewalt, wie sich jetzt bei Demos in Bautzen und andernorts zeigte. Und dann gebe es die Skeptiker, denen die Maßnahmen zu weit gingen oder die die Nebenwirkungen der Impfstoffe fürchteten. Sie würden durch die bisherige Ansprache der Landesregierung offensichtlich noch nicht erreicht.
Diese Leute wüssten oft nicht, dass sie mit Rechtsextremisten unterwegs seien. Es sei aber belegt, dass Aktivisten aus dem Umfeld der NPD, des Dritten Wegs und der Freien Sachsen organisatorisch federführend seien. Die AfD versuche, auf diesen Zug aufzuspringen. „Deshalb bagatellisiert sie den rechtsextremen Kern und verhält sich opportunistisch. Sie versucht, aus der Krise Kapital zu schlagen.“
Gefälle zwischen Stadt und Land
Für Raj Kollmorgen liegt die Korrelation von AfD-Wahlergebnissen und Impfquote auf der Hand. Das lasse sich bis auf die Kreisebene zeigen. Die AfD sei zum einen der Spiegel von etwa 30 Prozent der Wahlbevölkerung. Gleichzeitig gebe sie dem Protest eine Stimme und ein Programm. Der Soziologe ist Professor für Management sozialen Wandels an der Hochschule Zittau-Görlitz. Im Kreis Görlitz an der Grenze zu Polen ist die Impfquote besonders niedrig – und die Zustimmung zur AfD besonders hoch. Kaum 50 Prozent sind dort zweifach geimpft. „Es gibt schon so etwas wie eine weit zurückreichende rechtspopulistische Grundierung der Region.“
Damit meint er besonders Teile Sachsens und Thüringens, aber auch das südliche Sachsen-Anhalt. Diese Gebiete teilten eine bestimmte Wirtschafts- und Sozialgeografie. Hügelig, mittelständisch, ländlich gehe es da zu. Anders als im „entdichteten“, dörflich geprägten Brandenburg seien die kleinen Städte aber immerhin so groß, dass durch Sozialkontrolle eine hinreichend große Zahl Menschen erreicht werde. Impfskeptische Wortführer in Vereinen wie der Feuerwehr hätten deshalb eine hohe Reichweite. Die Impfskepsis sei indes nur ein Symptom. Ihr voraus liege eine starke Skepsis gegenüber der Regierung. Das habe sich an den Protesten gegen die Merkelsche Grenzöffnung gezeigt, zuvor an den Protesten gegen die Sozialreform Hartz 4. „Es gibt hier eine Kultur der Entfremdung dem Staat gegenüber.“ Schicht lege sich auf Schicht. „Die jüngste ist eben die Impfskepsis.“ Das habe mit der DDR-Erfahrung zu tun, aber auch mit den demografischen und wirtschaftlichen Umwälzungen nach 1989.
Viele gerade junge und höher qualifizierte Menschen seien weggegangen. Gefördert worden sei seit der Wende zudem der großstädtische, nicht der ländliche Raum. Nicht zuletzt gebe es auch deshalb ein Gefälle bei der Impfquote zwischen Städten wie Leipzig und Orten im Erzgebirge. Zudem seien die vielen Handwerker und Kleingewerbetreibenden aus Branchen wie Tourismus, Gastronomie oder Gesundheitswirtschaft vulnerabler gegenüber Lockdown-Maßnahmen als Beamte und Angestellte von Großunternehmen in der Stadt.
Insgesamt hält Kollmorgen die Haltungen in diesen ländlichen sozialen Milieus für so stabil, das Weltbild für so unerschütterlich, dass selbst Maßnahmen wie eine verstärkte zielgruppengerechte Ansprache oder mehr mobile Impfteams eine im Vergleich zu Westdeutschland überdurchschnittlich große Gruppe nicht erreichen werden.
Es fehlt an Vertrauen
Damit will sich Thomas Arnold nicht abfinden. Der Theologe leitet die im Herzen Dresdens gelegene Katholische Akademie des Bistums Dresden-Meißen. „Es fehlt an zivilgesellschaftlichen Akteuren, die Vertrauen genießen“, sagt der 33-Jährige. So aber stünden viele Bürger unvermittelt dem Staat gegenüber, dem sie prinzipiell misstrauten. Kommunikationsfehler der Regierung – etwa, dass sie zu lange auf der Nachhaltigkeit der Impfstoffwirkung bestanden habe – seien nicht hilfreich gewesen. „Die Menschen spüren, wenn die Dinge schöngeredet werden.“
Die katholische Kirche versuche, Besorgte und ihre Ängste ernst zu nehmen. Zu Beginn des Advents habe das Bistum eine Zoom-Videokonferenz mit Ärzten zur Sicherheit der Corona-Impfung angeboten. Da sei die ganze Breite der Ungeimpften vertreten gewesen, sagt der gebürtige Zwickauer. Neben Esoterikern und radikal Rechten habe auch eine Krebskranke teilgenommen, die Angst vor möglichen Nebenwirkungen hatte. Arnold ist sich sicher: „Solche Leute aus der Mitte der Gesellschaft kann man diskursiv erreichen.“
Ein Artikel aus der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ)