Tennis total und ein bisschen Frank Sinatra
Wir haben es tatsächlich getan. Nach 15 Jahren. Mindestens so lange haben wir nur darüber geredet. Über New York, die US Open, Flushing Meadows, und wie es wäre, einmal live dabei zu sein. Wir, das sind der Schreiber dieser Zeilen und sein unendlich tennisbegeisterter Kollege Marcus Hug.
Die Anreise verlief, um’s in der Kommentatoren-Sprache zu sagen, arm an Höhepunkten. Sieht man vom einzigen Stressmoment ab: der Zug von Rastatt nach Mannheim mit Sauna-Temperaturen und Menschentrauben auf dem Gang. Die Folge des Verkehrsinfarktes der Bahn wegen des Tunnelbohrschadens bei Rastatt.
Als wir um 10.57 Uhr Ortszeit amerikanischen Boden betreten, ist es vorbei mit mitteleuropäischen Höflichkeitsfloskeln. Unvermittelt trifft uns die geballte Autorität, um nicht zu sagen leise Feindseligkeit der Kontrolleure am Flughafen. Auch draußen vor dem John-F.-Kennedy-Airport weht ein anderer Wind als in good old Germany.
Charme eines Stacheldrahtzaunes
Zwischen uns und der langen Reihe gelber Taxis steht eine uniformierte dunkelhäutige Dame. Schnell ist klar: Sie hat den Charme eines Stacheldrahtzaunes, und in Sachen Dominanz ist Alice Schwarzer vergleichsweise ein Rauschgoldengel.
Nachdem diese Taxi-Anweiserin die Reisegruppe vor uns auf einsfuffzig mit Hut zusammengefaltet hat, weil die Leute es wagten, sich selbst ein Taxi auszusuchen, befolgen wir die lautstarken Anweisungen der wichtigen und noch viel übergewichtigeren Dame Schritt für Schritt und gelangen danach tatsächlich für den im Reiseführer angegebenen Preis nach Manhattan.
Im Hotel haben wir Zimmer 3318. Und ich denke sehr deutsch: dritter Stock, Zimmer 318. Doch im Fahrstuhl zeigt es ruckzuck die »20« an – Halt macht er auf Etage 33. Unter unserem Fenster liegt im Format einer Hutschachtel der legendäre Madison Square Garden.
Sehenswürdigkeiten besichtigt
An Füße hochlegen ist jetzt nicht zu denken. Im »Macy’s«, dem größten Kaufhaus der Welt, laufen wir uns den Jetlag aus den Beinen.
Danach gehen wir gleich aufs Ganze: das Empire State Building – das berühmteste Dach von New York. Der Aufzug schleudert uns in sage und schreibe 47 Sekunden ins 80. Stockwerk hinauf. Und als wir die Aussichtsplattform des einst höchsten Gebäudes der Welt betreten, liegt die Wolkenkratzerlandschaft von Manhattan unter uns wie Legoland. Der 350 Hektar große Central Park, die grüne Lunge von NYC, hat die Größe einer Zigarettenschachtel.
Der Ausblick ist, selbst wenn man viel erwartet hat, unvorstellbar.
Auf ganz andere Weise gilt das auch für den Times Square, das Zentrum des Broadways. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit tauchen wir ein in die Glitzerwelt, die wegen der überdimensionalen Leuchtreklamen wie unter Flutlicht erstrahlt. Nicht nur, aber ganz speziell hier ist New York die von Frank Sinatra besungene Stadt, die niemals schläft.
Times Square ist ein must-see – da muss man einfach gewesen sein. Aber nach 28 Stunden ohne Schlaf und mit knurrendem Magen auch ein mutiges Vergnügen. Denn wir riskieren, dort zu essen.
Hindernisse beim Essen
Vor dem Genuss amerikanischer Speisen, die zu 90 Prozent aus Kalorienbomben bestehen, gibt es zwei Hindernisse: Ein mit locker 25 Personen gefüllter Warteraum, wo man sich namentlich anmelden muss, und dann eine Etage höher eine weitere kleine Warteschlange beim Platzanweiser.
Der Heimweg von der 49th Street zur 34. Straße, wo unser Hotel steht, trägt dann aber schon vorentscheidend zur Verdauung bei.
Tag zwei: Die Metro bringt uns raus aus Manhattan. Wir atmen Normalität, betreten sofort einen Park und bemerken gar nicht, dass wir beim Fotografieren einer Joggerin den Weg versperren. Sie bleibt einfach stehen, strahlt uns völlig verschwitzt an und fragt, ob sie nicht ein Foto von uns beiden machen solle. Der glatte Gegenentwurf der Taxi-Anweiserin ...
Wir gehen zu Fuß über die Brooklyn-Bridge zurück nach Manhattan. Links sieht man die Freiheitsstatue in Stecknadelgröße – vor uns baut sich das neue One World Trade Center auf.
Doch unsere Blicke werden nicht angezogen von dem »Noch höher«, mit dem die Amerikaner auf die Terroranschläge vom 9. September 2001 geantwortet haben, sondern von den beiden großen Becken mit abfließendem Wasser, die genau dort entstanden sind, wo die beiden durch Flugzeuge zerstörten Türme des World Trade Centers ihren Platz hatten.
Der Ground Zero. An der Umrandung der Becken sind alle Namen der 2819 Menschen eingraviert, die damals ihr Leben ließen. Die Konfrontation mit einem der erschreckendsten Kapitel jüngster Geschichte bringt auch den Lärm dieser aufgewühlten, elektrisierten Stadt zumindest gefühlt zum Schweigen.
Der dritte Tag
Am Morgen des dritten Tages ziehen wir um. Rund um den Corona Park in Flushing Meadows riecht New York anders. Nach Industrie, nach Alltag. Wenn die Farbe Grau einen Geschmack hat, dann den hier.
Im Norden von Queens ragen nur zwei Gebäude heraus: Das Citi Field, wo die Baseball-Spieler der New York Metropolitans ihre Heimspiele austragen, und die Schüssel des Arthur-Ashe-Stadiums – das Zentrum der US Open.
Wir gehen vom Hotel aus rechts. Zum Tennis. Dass wir den direkten Weg wissen, verdanken wir nicht etwa dem Polizisten, der uns höflich, aber bestimmt in die falsche Straße schickte, die es nicht einmal gab, sondern einem Taxifahrer, der uns am ersten Abend nachts um halb zwei für die, wie es sich herausstellte, nur 1500 Meter lange Strecke 20 Dollar abknöpfte. Natürlich ohne seine Uhr an den Start zu bringen.
Shania Twain singt zur Eröffnung
Das Ashe-Stadium erlebte schon in der ersten Night Session ganz großes Kino. Zur Eröffnung der US Open 2017 sang Shania Twain. Der Country-Pop-Star wurde frenetisch gefeiert und nicht etwa ausgepfiffen wie Helene Fischer beim DFB-Pokalfinale in Berlin.
Die emotional aufgeladene Arena ist die ideale Spielwiese für Maria Sharapova. Das Glamour Girl im Filzball-Zirkus kann ihre Tränen genau so perfekt platzieren wie die gelben Bälle. Und die 24 000 Zuschauer interessiert es einen feuchten Kehrricht, ob die schöne Russin gedopt hat oder nicht.
Während der Ballwechsel werden Millionen von Kalorien auf die Ränge geschleppt. Angeblich sollen während der zwei Wochen, die das Turnier dauert, 225 000 Burger in hungrige Mäuler gestopft werden. Wobei das Nutzer-Bedarfs-Verhältnis deutlich verzerrt ist. Denn verbraucht werden die Kalorien nur von den Spielern.
Der Betrachter indes ist in erster Linie auf sein Auge angewiesen. Beim Tennis gibt es unendlich viele knappste Entscheidungen. Ganz wichtig ist deshalb das Hawk-Eye – das untrügliche Auge des Computers, das die Spieler am laufenden Band bemühen. Glücklicherweise funktioniert es viel besser als der Videobeweis in der Bundesliga.
Ich brauche kein Hawk-Eye, denn ich habe das Hug-Eye. Und der Kollege Hug hat ein Handy. Damit managt er so gut wie alles: Ergebnisse, Zwischenstände, das sind die sogenannten Live Scores, den Spielplan – also wann auf welchen Platz gehen, um stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein – die Ansetzungen für den nächsten Tag, Tickets kaufen und verkaufen, chatten, wetten – und seine Frau beruhigen, die zuhause beim Renovieren des Wohnzimmers einen wüsten Rückschlag verkraften muss, weil die beiden kleinen Töchter eine frisch gestrichene Wand mit Kugelschreiber bemalt haben.
Der Marathon-Mittwoch
Dem Regen sowie dem klugen Kartenkauf meines Kollegen verdanken wir schließlich unseren ganz persönlichen Marathon-Mittwoch. Dabei kommt auch beim Tennis die bewährte Strategie des New Yorker Sommerschlussverkaufs zum Tragen: »Buy one, get one free.« Was so viel heißt wie: Beim Kauf eines Teils gibt es ein zusätzliches gratis.
Weil am Vortag fast alle Spiele der Nässe zum Opfer gefallen sind und nachgeholt werden müssen, sehen wir zum gleichen Preis die doppelte Anzahl von Matches. Sage und schreibe 87 Einzel.
Wir erleben Andrea Petkovic, Alexander und Mischa Zverev, Julia Görges, Dustin Brown, Petra Kvitova, Amerikas Fräulein-Wunder C.C. Bellis, Kristyna Pliskova und Svetlana Kuznetszova.
Nach 14 Stunden Tennis nonstop sind die US Open 2017 für uns zu Ende. Mitternacht ist längst vorbei, und auf Court 17 hat gerade noch die Russin Makarova die favorisierte Dänin Wozniacki rausgeworfen. Am nächsten Tag lesen wir im Netz, dass sich die Verliererin heftig beschwert hat über die späte Ansetzung – nach dem Motto: »Ich spiele als Nummer 5 der Welt hier mitten in der Nacht auf einem Außenplatz, während Doperin Sharapova zur besten Zeit im größten Stadion angesetzt wird.«
Wir indes hatten unser Fett schon bei der Ankunft am Flughafen abbekommen. Um so milder fällt der Abschied aus. Der Verkäufer im allerletzten Schuhgeschäft sagte: »Have a save life.« Ein sicheres Leben – was kann man schon Besseres wünschen in den Zeiten des Terrors und ein paar Tage vor 09/11...?