Der Staat stupst uns immer

Gert G. Wagner ist Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.
Anreize prägen seit Langem die Politik. Die Bundesregierung geht nun aber verstärkt der Frage nach, welche Anreize nötig sind, um Bürger in ihrem Verhalten in eine bestimmte Richtung zu lenken. Ökonom Gert G. Wagner hält das Stupsen des Staates nicht für fragwürdig, solange ihm eine ordentliche Analyse vorausgeht.
Angela Merkel hat jüngst im Kanzleramt Verhaltenswissenschaftler eingestellt, die die Grundlagenforschung über menschliches Verhalten aufarbeiten sollen. Denn für die Politik ist es wichtig zu verstehen, wovon es abhängt, dass die Bürger politische Ziele im Alltag annehmen. Wann sie etwa freiwillig ihre Altersvorsorge privat aufstocken (»riestern«), um die sinkende staatlich garantierte Rente aufzubessern.
Im Zusammenhang damit hat sich Verbraucherschutzminister Heiko Maas für »nudging« ausgesprochen, also »Stupse«, damit wir uns vernünftiger verhalten. Zum Beispiel als Nachtisch zum Obst greifen, weil es in der Kantine leicht erreichbar ist, während der Süßkram bewusst nach hinten gestellt wird. Oder die Grünphase an der Fußgängerampel abwarten, weil sie die Sekunden sichtbar herabzählt.
Für die einen sind solche staatlich verabreichte Stupse sinnvoll, um Menschen zu mehr Vernunft zu bringen. Für andere sind sie unzulässige Eingriffe in die Freiheit der Bürger. Dabei betreibt jeder Staat seit alters her »nudging« – ob er will oder nicht. Neu ist die Diskussion unter einem neuen Stichwort. Und lernen kann man daraus auf jeden Fall.
Beispiel Altersvorsorge: Ein harter Eingriff ist die Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung. Hier stupst der Staat nicht, sondern erzwingt Altersvorsorge im Interesse seiner Bürger. Bei den freiwilligen Entscheidungen für private und betriebliche Vorsorge stupst der Staat uns aber kräftig mit Subventionen (für die »Riester-Rente«) und Steuervorteilen, ohne dass dies so genannt wird. Gäbe es keine Zuschüsse für Riester-Renten, wäre dies auch ein Stupsen – aber weg von privater Vorsorge.
Obwohl inzwischen Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften ein steigendes Rentenzugangsalter befürworten, da es die Rentenkassen entlastet und Rentner trotzdem pro Monat mehr in der Tasche haben, wird nicht gezielt dafür geworben. Die Entscheidung über den Zeitpunkt des Übergangs in den Ruhestand den Betroffenen selbst zu überlassen, ist zwar richtig. Aber faktisch wird in Richtung Rente gestupst. Denn die Rentenversicherungsträger informieren ihre Versicherten nicht gezielt über Möglichkeiten und Vorteile des Arbeitens über die Regelaltersgrenze von 65 Jahren hinaus. Im Gegenteil: Versicherte, die noch keinen Rentenantrag gestellt haben, werden von Amts wegen drei Monate vor Erreichen der Regel-Altersgrenze daran erinnert, dass sie einen Rentenanspruch haben.
Die Versicherten werden aber nicht darüber informiert, dass sie die Wahl haben, in Rente zu gehen oder versicherungspflichtig weiterarbeiten oder unbeschränkt als Rentner nebenerwerbstätig zu sein. Dabei ließen sich sinnvolle Informationen flächendeckend ohne gesetzliche Änderungen einführen. Das wäre ein sehr sanfter Stups.
Bundesminister Heiko Maas sagt zu recht, dass wir bei der Werbung jeden Tag kleinen »nudges« ausgesetzt sind. Aber Produktdesigner und Werbeleute nennen ihre Tricks nicht so und verschweigen sie am liebsten. Das kann ein demokratischer Staat sich nicht leisten. In einer Demokratie ist Stupsen auch nicht fragwürdig. Und egal, was der Staat an Regeln setzt: In die eine oder andere Richtung stupst er immer. Auf jeden Fall ist es sinnvoll, dass die Regierung – nicht nur im Kanzleramt – systematisch untersucht, welche Rolle staatliche Gesetze beziehungsweise Nicht-Gesetze für unser alltägliches Verhalten spielen.