Lahrer Stadtverwaltung und Russlanddeutsche diskutieren
Mit den Deutschen, die in den 1990er-Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion kamen, traf sich am Mittwoch die Lahrer Stadtverwaltung im Kanadaring. Die Themen: die richtige Bezeichnung für Spätaussiedler, Flüchtlinge, die Wahlergebnisse und das politische Engagement.
Wer sind die gut 100 Interessierten eigentlich, die sich gestern mit Repräsentanten der Lahrer Statdverwaltung, der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland und dem Verein Bürger Aktiv Lahr dicht gedrängt in der Walter-Kolb-Halle im Kanadaring trafen?
Russlanddeutsche, Spätaussiedler, Deutsche aus Russland oder einfach nur Deutsche? Teilweise hitzig diskutierten sie über Flüchtlinge, die Landtagswahlergebnisse und das politische Engagement in Lahr. Der Abend ist nach Oberbürgermeister Wolfgang G. Müllers Angaben bereits im Januar, nach der Demonstration auf dem Rathausplatz, beschlossen und bewusst nach der Wahl anberaumt worden.
Wie nun?
Also: Wie soll man die Deutschen nennen, die vor allem in den asiatischen Ländern der ehemaligen Sowjetunion lebten und vornehmlich in den 1990er-Jahren nach Lahr kamen? Für einen Gast ist klar: »Ich bin kein Spätaussiedler.« Er sei immerhin schon vor 41 Jahren nach Deutschland gekommen. Man sollte aufpassen mit dem Begriff. Als Müller im Januar bei der Demonstration das Wort ergriff und von »den Spätaussiedlern« sprach, habe er die damit »erniedrigt«. Ein längerer Applaus folgte. Müllers Antwort: »Es gibt immer Unschärfen.«
Eine Frau nahm Müller in Schutz, sagte aber auch: »Der Begriff kratzt uns.« Sie seien stets Deutsche gewesen, auch in der Sowjetunion, in der sie sich »nie assimilierten«. Sie findet das Wort »hässlich«. Mit einer Gleichung brachte sie ihr Argument auf den Punkt: »Wenn ein Vogel in einem Kuhstall ein Nest baut, bleibt er ein Vogel. Er wird nicht zur Kuh.« Juristisch gesehen, erklärte Hilda Beck von Bürger Aktiv Lahr, sei der Begriff Spätaussiedler korrekt. Bis Dezember 1992 wurden Deutsche aus Russland als »Heimkehrer« bezeichnet. Ab Januar 1993 galten sie als »Spätaussiedler«.
Nicht in der Politik
Müller lobte die Verdienste der Spätaussiedler. Sie hätten sich gut integriert. Das sehe er etwa an der Teilnahme Russlanddeutscher in Vereinen und im Berufsleben (siehe »Stichwort«). Nur in der Politik mangele es noch an Personen aus diesem Kulturkreis.
Ein Gast sagte daraufhin: »Die Parteien waren jahrelang nur an den Stimmen der Spätaussiedler interessiert.« Dass sich jemand von ihnen in Parteien engagiert, sie aber verhindert worden.
Müller wehrte sich gegen diesen Vorwurf. Auch eine Frau, ebenfalls Spätaussiedlerin, pflichtete ihm bei. Sie sieht das bislang fehlende Engagement als Fehler der Russlanddeutschen selbst an. Immerhin, sagte der Oberbürgermeister, seien im Jugendgemeinderat viele Russlanddeutsche – auch die Vorsitzende des Rats selbst. Müllers Forderung: »Engagieren Sie sich.«
Auffällig war nach der Landtagswahl vor knapp drei Wochen der hohe AfD-Wähleranteil in Stadtteilen mit vielen Spätaussiedlern. Eine Frau sagte dazu: »Es ist nicht wahr, dass wir Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge sind.« Sie und viele andere hätten die AfD »aus Trotz« gewählt. Dennoch frage sie sich, weshalb viele junge Männer ohne ihre Familien kämen. Sie kritisierte aber auch den Umgang mit den Flüchtlingen und mahnte an, dass es zu Ghettobildungen kommen könne.
Unsicher
Eine andere Frau fragte, was gegen die jungen männlichen Flüchtlinge getan werde. Sie fühle sich nicht mehr sicher. Ein Gast sprach sogar von »Kämpfen«, die es im Frühling geben werde, wenn »Röcke und Bikinis« kommen. Er fragte: »Wird das Terassenbad überwacht?« Bürgermeister Guido Schöneboom entgegnete dem wie folgt: »Die Sicherheitslage in Lahr ist besser als die in Kehl oder auch in Offenburg.« Er verwies auf den Unterschied von gefühlter und tatsächlicher Sicherheit.
Günter Evermann, Amtsleiter für Soziales, Schulen und Sport, sprach von zwei kleineren Vorkommnissen durch Flüchtlinge in Lahr. Er bat die Spätaussiedler, Kontakt zu Flüchtlingen aufzunehmen. »Wir kennen die Leute. Wir brauchen nicht mit ihnen reden. Wir wissen, wie sie erzogen wurden«, entgegnete ihm eine Gesprächsteilnehmerin.
Ob es ein weiteres Treffen geben wird, konnte Müller am Mittwoch nicht sagen. Dass das Thema aktuell bleibt, zeigte das große Interesse der Russlanddeutschen aber deutlich.
Russlanddeutsche in Lahr
Ungefähr 10 000 Spätaussiedler leben in Lahr. Sie sind laut OB Müller ein fester Bestandteil der Stadt. Er macht das unter anderem mit folgenden Zahlen deutlich.
Jährlich gibt es 15 bis 20 Unternehmensgründungen von Russlanddeutschen. Firmen wie Ina oder Grohe haben einen Anteil von etwa 25 beziehungsweise 19 Prozent Russlanddeutschen.
Beim Fußballverein Dinglingen sind zirka 70 Prozent der Sportler Spätaussiedler, in Langenwinkel etwa 90 Prozent. Zehn Übungsleiterinnen des TV Lahr sind ebenfalls welche. Im Interkulturellen Beirat sind außerdem acht Mitglieder Russlanddeutsche.