Massenverhaftungen und „Säuberungen“

So jagt der türkische Präsident Erdogan seine Gegner in der Türkei

Gerd Höhler
Lesezeit 3 Minuten
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20. Oktober 2022
Erdogan kämpft um Wähler für die Wahl 2023.

Erdogan kämpft um Wähler für die Wahl 2023. ©Foto: dpa/Burhan Ozbilici

Mehr als sechs Jahre nach dem Putschversuch in der Türkei gehen die „Säuberungen“ mit einer Welle von Massenverhaftungen weiter. Die Stimmung im Land droht zu kippen.

Sie kamen am Dienstag im Morgengrauen. In 59 der 81 türkischen Provinzen schwärmten die Fahnder der Antiterrorpolizei (TEM) aus, um 704 Haftbefehle zu vollstrecken. 543 Gesuchte konnten sie in Gewahrsam nehmen, nach den Übrigen wird weiter gefahndet. Die landesweite Razzia galt mutmaßlichen Anhängern des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Präsident Erdogan sieht in ihm den Drahtzieher des Putschversuchs vom 15. Juli 2016.

Mehr als sechs Jahre später geht die Jagd auf die angeblichen Gülen-Anhänger weiter, wie die jüngsten Razzien zeigen. Sie sollen dazu dienen, Erdogans Kritiker einzuschüchtern. Spätestens im Juni 2023 sollen die Türkinnen und Türken ein neues Parlament und einen Staatspräsidenten wählen. Aber es sieht nicht gut aus für den Amtsinhaber. In den Umfragen steht seine islamisch-konservative AK-Partei so schwach da wie nie seit ihrem ersten Wahlsieg vor 20 Jahren.

Türken sind unzufrieden

„Ne mutlu Türküm diyene“ lautet ein Leitsatz von Mustafa Kemal Atatürk: „Glücklich derjenige, der sich Türke nennen darf“. Das Motto ziert im ganzen Land Porträts und Standbilder des Staatsgründers. Aber das Lebensgefühl vieler Menschen ist nach zwei Jahrzehnten Erdogan ein anderes. Im „World Happiness Report 2022“, der die Zufriedenheit in 146 Ländern misst, liegt die Türkei auf Rang 112 – hinter Venezuela, dem Irak und dem Iran.

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Die miese Stimmung könnte zu einem Wahl-Debakel für Erdogan führen. In einer Umfrage des Instituts Piar von Mitte Oktober kommt seine AKP nur auf 29 Prozent, gegenüber 43 Prozent bei der Wahl von 2018. Auch bei der gleichzeitig stattfindenden Präsidentenwahl muss Erdogan erstmals seit seinem Amtsantritt eine Niederlage fürchten. Der Grund ist vor allem die schlechte Wirtschaftslage. Die Inflation erreichte im September laut offiziellen Zahlen 83 Prozent.

Neues Zensurgesetz

Aber nicht nur die Geldentwertung drückt auf die Stimmung. In einer Umfrage des Instituts Metropoll vom Oktober sagten 50 Prozent der Befragten, sie sähen ihren Lebensstil bedroht. Das Umfrageergebnis reflektiert die Unzufriedenheit mit dem autoritären Regierungsstil Erdogans. Diese Woche unterzeichnete der Präsident ein neues Zensurgesetz, das die Verbreitung „falscher“ Nachrichten in Medien und im Internet mit bis zu viereinhalb Jahren Haft bedroht. „Fake News“ seien eine Art des „Terrorismus“, sagte Erdogan diese Woche. Wer bestimmt, was „falsch“ ist, sagte er nicht.

Umstritten ist auch die islamistische Agenda des Staatschefs, der nach eigener Aussage „eine fromme Generation heranziehen“ will. Erdogan führt inzwischen einen regelrechten Kulturkampf. Im Januar ordnete er Schritte gegen TV-Programme mit „schädlichen Inhalten“ an. Immer häufiger verbieten die Behörden Rock-Konzerte und Pop-Festivals. Besonders aggressiv geht die Regierung jetzt gegen Schwule und Lesben vor. Innenminister Süleyman Soylu spricht von „Perversen“. Die türkische LGBTQ-Bewegung fürchtet Repressalien. Vor allem unter der Jugend wächst die Unzufriedenheit.

Keine Stimmen von den Unzufriedenen

Nach einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung würden 73 Prozent der 18- bis 25-jährigen Türkinnen und Türken lieber im Ausland leben als in ihrer Heimat. Zuverlässige Zahlen gibt es nicht, aber Sozialforscher schätzen, dass in diesem Jahr bereits 200 000 Menschen die Türkei verlassen haben. Die Auswanderer sind überwiegend jung und gut ausgebildet. Erdogan weint ihnen keine Träne nach. „Wir bemitleiden jene, die für ein besseres Auto, ein Smartphone oder um mehr Konzerte zu besuchen ins Ausland gehen“, sagte der Staatschef Ende September bei einer Klinikeröffnung in Ankara. Der Brain Drain ist ihm offenbar egal. Erdogan lässt die Unzufriedenen gerne gehen. Ihre Stimmen bekäme er ohnehin nicht.

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